We’re alive, we’re the lucky ones – Eine Solidaritätskampagne des UNICEF wirbt mit der geteilten Leidensgeschichte von Harry und Ahmed für Verständnis und läd zur Erinnerung an das europäische Trauma des letzen Jahrhunderts ein.

Das von UNICEF in Auftrag gegebene und von der Werbeagentur 180 Amsterdam produzierte Video „The Shared Story of Harry and Ahmed“ (auch bekannt unter dem Titel „80 years apart, these two refugees have more in common than you’d think”) ruft zur Unterstützung von aus Syrien geflüchteten Kindern auf. Indem auf erzählerischer wie bildlicher Ebene illustriert wird, wie sehr sich die Schicksale zweier Flüchtlingskinder trotz enormer zeitlicher Distanz ähneln – der eine floh im Zweiten Weltkrieg, der andere entkam dem syrischen Bürgerkrieg –, soll der zeitlose und grundsätzliche Wert aller Menschen, egal welcher Herkunft, betont werden.

Das Video wurde am 2. Februar 2017 von UNICEF als Beitrag zur Kampagne #TheChildrenOfSyria auf YouTube hochgeladen und ferner auch via Facebook, Twitter und der organisationseigenen Webseite verbreitet. „These are the real stories of Harry and Ahmed, told in their own words“, heißt es in der angefügten Videobeschreibung, die Authentizität der dargebotenen Geschichten betonend. Die affektive Wirkung des Videos beruht auf der simplen Einsicht: Obwohl die beiden Flüchtlinge Harry und Ahmed mehrere Generationen trennen, teilen sie das gleiche Schicksal. Die Erzählstrategie des Videos bedient sich dabei eines klassischen, wenn auch verkürzten Spannungsbogens: Die zwei sympathischen Protagonisten erzählen von ihrer Flucht aus einem Kriegsgebiet, die mit einem schmerzhaften Aufbruch zu einer Reise mit ungewissem Ausgang beginnt und schließlich mit der erlösenden Ankunft im sicheren Zielland endet.

Gleich zu Beginn werden Harry und Ahmed in einer frontalen Naheinstellung gezeigt, den Blick in die Kamera gerichtet, dem Zuschauer direkt zugewandt, damit er sich durch die so erzeugte Intimität in die erzählten Geschichten einfühlen möge. Die Fluchtberichte werden visuell gerahmt vom gleichen grauen Hintergrund, von der gleichen seitlichen Lichtsetzung und von beinahe identisch wirkendem Videomaterial aus dem Welt- bzw. Bürgerkrieg, somit die Gleichwertigkeit der beiden Flüchtlinge und ihrer Geschichten unterstreichend. Obwohl das Video zunächst den Anschein erweckt, Harry und Ahmed säßen voneinander räumlich und zeitlich getrennt, sitzen beide – wie sich zum Schluss des Videos herausstellt – tatsächlich direkt nebeneinander. Es sind, wie dem Zuschauer im Laufe des Videos immer deutlicher wird, in den Einzelaufnahmen nicht zwei visuell übereinstimmende Settings zu sehen, sondern tatsächlich ein und dasselbe Setting – so, wie auch die zunächst isolierten Fluchtgeschichten schlussendlich zu einer geteilten Erzählung verschmelzen.

Während der Rekapitulation ihrer jeweiligen Fluchtgeschichte spiegeln sich dieselben Emotionen in Harrys und Ahmeds Gesichtern. Die geteilten Empfindungen und Erfahrungen der sonst so unterschiedlichen Erzähler – der eine Deutscher, der andere Syrer – werden zum affektiven Anknüpfungspunkt, der den fernen syrischen Bürgerkrieg in greifbare Nähe rücken lässt. Diese rhetorische Strategie macht sich das empathische Potenzial zunutze, das der Zweite Weltkrieg für das westliche Publikum aufgrund seiner kulturellen und geschichtlichen Vertrautheit birgt – sei es in Form von Erinnerungen der Großeltern, Erzählungen der Eltern oder sogar Erlebnissen aus der eigenen Kindheit. Harry, der Flüchtlingsjunge aus dem Zweiten Weltkrieg, bietet den Zuschauern identifikatorisches Potenzial, das sich durch die Verschmelzung der beiden Erzählstränge zunehmend auch auf den Jungen Ahmed überträgt. Indem die Geschichten von Harry und Ahmed nicht nur inhaltlich, sondern schließlich auch bildlich miteinander verknüpft werden, kann die räumlich-zeitliche Distanz zwischen den katastrophalen Zuständen in Syrien und der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg überbrückt werden. Die kulturelle Nähe von Harrys Geschichte erleichtert das Mitfühlen mit Ahmed: Es wird eine affektive Querverbindung zwischen geografisch naher Kriegs-Vergangenheit und geografisch ferner Kriegs-Gegenwart geschaffen, in die sich der Zuschauer leichter hineindenken und -fühlen kann.

Das Motiv der Annäherung, das im finalen „Twist“- Harry und Ahmed waren nie getrennt, sondern saßen von Beginn an direkt nebeneinander – kulminiert, durchzieht das gesamte Video: Von Beginn an eint die beiden Charaktere eine zunehmend ähnliche Erzählung, wiedergegeben in beinahe gleichem Wortlaut, bloß in anderen Sprachen. Später ergänzen sie abwechselnd, aber vermeintlich noch unabhängig voneinander, die Sätze des jeweils anderen. Während Harry und Ahmed zu Beginn noch in einem jeweils eigenen Bildfenster isoliert sind, werden die inhaltlichen Übereinstimmungen der beiden Geschichten bereits zunehmend deutlicher, bis sie sich schließlich mit dem simultan geäußerten Satz „I thought I was going to die“ erstmals direkt überkreuzen. Zudem gleichen sich auch die historischen und die aktuellen Kriegs- und Fluchtaufnahmen, mit denen die jeweiligen Erzählungsfetzen unterfüttert werden, im Laufe des Videos immer stärker. Der ebenfalls gemeinsam ausgesprochen Satz „I am alive, I am one of the lucky ones“ – Klimax des Videos – macht dann deutlich, dass die Erlebnisse und Emotionen der beiden so unterschiedlichen Charaktere nahezu identisch sind, bevor dem Zuschauer schließlich die tatsächliche Interview-Situation und die räumliche Nähe der beiden zueinander eröffnet wird. Das Ende der nun zu einer einzigen Erzählung verschmolzenen Geschichten – die sichere Ankunft in der (vorübergehenden) neuen Heimat – spiegelt sich auch in der Schlusseinstellung: Harry und Ahmed sitzen lächelnd nebeneinander, das nun frontal gerichtete Licht erhellt die erleichterten Gesichter.

Dem Motiv der Annäherung steht von Beginn an das Grundmotiv der Gegensätzlichkeit der beiden Personen gegenüber. Jung bzw. alt, Arabisch bzw. Deutsch, dunkelhäutig bzw. hellhäutig, die Flucht aus Deutschland bzw. die Flucht nach Deutschland – die beiden Personen, so der Tenor, könnten bis auf ihren Status als „Flüchtling“ oberflächlich betrachtet kaum unterschiedlicher sein. Die Auflösung dieser Gegensätzlichkeit erfolgt erst beim Blick unter die Oberfläche, bei der Betrachtung des Innenlebens beider: Sie teilen ein ähnliches Schicksal, durchlebten dieselben Strapazen und Emotionen. Die augenscheinliche Gegensätzlichkeit hält einer tieferen, empathischen Auseinandersetzung nicht stand. Das Video endet mit einer Schwarzblende und dem Appell an die Zuschauer, das Video unter dem Hashtag #RefugeesWelcome in den sozialen Medien zu teilen. „For every child“, wird abschließend eingeblendet, somit die Kernbotschaft des Videos untermauernd: Hinter den oberflächlichen Sammelbegriffen „der Flüchtlinge“ und „der Migranten“ stehen Einzelschicksale verängstigter Kinder, derer wir uns unabhängig von Sprache, Hautfarbe, Religion und Herkunft gleichermaßen anzunehmen haben.

Spenden werden nicht explizit erbeten, stattdessen will das Video zu Mitgefühl und Empathie für syrische Flüchtlingskinder anregen. Nicht die Herkunft und die Religion seien entscheidend, so die Botschaft, sondern nur das erlittene Schicksal zähle. Diese Motiv-Zusammenhänge werden zusätzlich durch das Schwarzweiß des gesamten Videos, das die Qualitätsunterschiede zwischen jahrzehntealtem und aktuellem Filmmaterial zu negieren sucht, und die kontinuierliche und melancholische musikalische Begleitung unterstützt. Die hohe Interaktionsrate auf Facebook spricht für den Erfolg, also die hohe affektive Kraft des Videos: In den ersten zwei Monaten hatten es bereits 5,1 Millionen Menschen aufgerufen. Von manchen kritischen Kommentaren abgesehen, zeigten sich die Nutzer größtenteils gepackt und zum Nachdenken angeregt („What a powerful message“) oder mitgerissen und emotional tief berührt („This made me cry“).

Finja Schmitz