Sorry, this entry is only available in German.

In dem im August 2020 auf Instagram veröffentlichten Video “Ich bin Belarussin” formieren 42 Frauen eine kollektive Gegenstimme zu den sexistischen Verunglimpfungen des autoritären belarussischen Machthabers Aljaksandr Lukaschenka.

Während weißgekleidete Frauen mit Blumen, Hand in Hand in Menschenketten, im August 2020 auf den belarussischen Straßen standen, ging das Video “Ich bin Belarussin” in Sozialen Medien viral. In dem Webvideo reagieren 42 Frauen auf wiederholte sexistische Äußerungen des illegitimen, autoritären Machthabers Aljaksandr Lukaschenka. Das Video-Statement ist antithetisch aufgebaut: Sexistischen Aussagen und patriarchalen Einstellungen werden oppositionelle, feministische Perspektiven entgegengestellt. Lukashenkas Aussage, dass “die Berufung einer Frau darin besteht, die Welt zu schmücken”, wird zum Beispiel von einer weiblichen Begleitstimme gefolgt, die sagt: “Ich bin kein Schmuckstück, kein Anhängsel und kein Gegenstand“.

Dieses Stilmittel wird das gesamte Video über wiederholt. Auch auf visueller Ebene wird die Antithese eingesetzt, indem verschiedene Frauen einem gesichtslosen System gegenübergestellt werden. Zahlreiche Frauengesichter erscheinen nacheinander im Bild: So sind z.B. ein kleines Mädchen und eine ältere Frau zu sehen, eine Mutter mit Kindern und eine berühmte Sängerin, alle sehr unterschiedlich in Aussehen und Verhalten. Ein vertikales, für Instagram zugeschnitten Bild in Halbnahe stellt jede Protagonistin ins Rampenlicht und zeichnet ein persönliches Porträt von jeder Einzelnen.

Der Kamerablick der Frauen ist von einem Lächeln gezeichnet und drückt Würde aus, gleichzeitig nehmen die Frauen entspannte und selbstbewusste Körperhaltungen ein. Im Zusammenspiel mit der dynamischen Musik vermittelt diese Körpersprache Kraft und zuversichtliche Gelassenheit, die Schwarz-Weiß-Ästhetik drückt Leichtigkeit und Anmut aus. Diese Art der Selbstrepräsentation offenbart auch einen gewissen Grad an Selbstbewunderung, der den oft als Narzissmus fördernd kritisierten, ästhetischen Imperativen auf Instagram folgt.

Dennoch ist das Video weniger ein narzisstischer Akt als eine Manifestation der Selbstachtung und ein Weg der Selbstbehauptung marginalisierter weiblicher Stimmen gegen ein sie erniedrigendes und diskriminierendes System. Metaphorisch verkörpert wird dieses System in den Auszügen aus Lukashenkas Reden, in denen er obskuren „Lesbianismus“ verurteilt und behauptet, Frauen sollten einzig “die Welt schmücken” und “mehr Kinder gebären”, dass sie “die Ärmsten” seien und die Verfassung für sie nicht gedacht sei. Während Lukashenkas Stimme gut zu verstehen ist, ist seine visuelle Repräsentation entindividualisiert und entmenschlicht – auf der visuellen Ebene wird er in keiner Weise abgebildet, seine Worte werden einzig von Untertiteln auf weißem Hintergrund begleitet. Diese gesichtslose Repräsentation Lukashenkas ist ein Symbol für ein autoritäres System, dessen Wesen durch einen überholten Paternalismus, durch Sexismus und zynische Missachtung der Menschenwürde geprägt ist. Im Video wird der gesichtslose Antagonist Lukashenka als ein bedrohlicher Anderer verkörpert und erinnert so an Foucaults Bild des Staates als „großes und kaltes Ungeheuer“ (Foucault 2002 [1978]).

Die Frauen im Video haben dagegen Gesichter, die im Kontrast zum anonymen System einen besonderen Symbolcharakter aufweisen. In diesem Sinne ist das Video ein Mittel zur Selbst-Artikulation, das die Innenwelten der einzelnen Frauen aufgreift und ihre Individualität und Vielfalt zum Ausdruck bringt. Außerdem handelt es sich um eine (mit-)geteilte Selbstidentifikation, die Konstruktion einer kollektiven Identität. Das Video schafft durch verschiedene audiovisuelle Mittel ein Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit: So spricht für alle dargestellten Frauen dieselbe Stimme, mit der sie sich durch empathische Gesten und Mimik wie Kopfnicken und -schütteln, Lächeln und einen gestreckten Mittelfinger verbinden. Dieses Voice-Over ist eine imaginierte gemeinsame Stimme, die die Meinungen und Forderungen der belarussischen Frauen im Video als kollektives politisches Subjekt zum Ausdruck bringt und gegen die unverkörperte Stimme Lukashenkas stellt.

Einzelne Porträts wechseln sich mit Aufnahmen ab, in denen sich die Frauen an den Händen halten und einander umarmen, was ihre emotionale Verbundenheit zeigt. Das gesamte Video über wird mantrahaft wiederholt: „Ich bin Belarussin. Ich bin eine Person. Ich bin eine Stimme. Ich bin die Zukunft.“, wobei die Anapher „Ich bin“ im Vordergrund steht. Diese ausdrucksstarke Formel betont die Bedeutsamkeit des individuellen „Ich“, des „Selbst“, seine eigenständige und selbstbewusste Positionierung, seine Fähigkeit zu handeln und sich auszudrücken. Und dennoch verschmilzt die Vielzahl von „Ichs“ zu einem Ganzen und verkörpert metonymisch ein „Wir“, das durch Solidarität und einen gemeinsamen Kampf gegen den seelenlosen und anonymen Repressionsapparat vereint ist. Darin besteht die Doppelfunktion des Videos, das Individualität in den Mittelpunkt stellt und somit die Frau als Einzelne zu ermächtigen sucht, zugleich aber auch einen Weg der Selbsterkenntnis in Anderen, der Anerkennung und des Eintretens für Frauen als ein kollektives politisches Subjekt aufzeigt. Das Persönliche wird im Video-Statement der Belarussinnen zum Politischen.

Die Formel der sich wiederholenden „Ichs“ und die dazugehörige Bildreihe sind nach dem Prinzip der Gradation angeordnet, also einer allmählichen Steigerung ihrer emotionalen und semantischen Bedeutung. Dies erhöht graduell die Spannung, die sich am Ende des Videos in einen gemeinsamen Protestschrei entlädt. Die Adressantinnen der deutlichen und kompromisslosen emanzipatorischen Botschaft halten ihren Aufschrei nicht mehr zurück: „Ich habe das Recht auf eine Wahl. Ich habe das Recht auf eine Stimme. Ich habe das Recht auf ein besseres Leben.“

Sophija Savtchouk