Beweisvideos im Zeugenstand: Wie sich ein rechtsnationaler Polit-Blog die Vieldeutigkeit eines Videoclips zunutze machte, um seinen antiislamischen Standpunkt zu verbreiten.

Der mit zahlreichen als rechtsradikal und islamfeindlich geltenden Personen und Organisationen vernetzte Polit-Blog „Politically Incorrect“ – kurz: „PI News“ – titelte am 4. Januar 2016: „Brüssel: Moslems werfen Auto in U-Bahnschacht und sprengen Weihnachtsbaum in die Luft“. In dem Blogeintrag, markiert mit Schlagworten wie „Asyl-Irrsinn“, „Hassreligion“ und „Islamisierung Europas“, verweist der Autor auf ein eingebettetes YouTube-Video mit dem Titel „Moslems fackeln Christbaum auf Weihnachtsmarkt ab“. Dieser Clip – eine Montage aus zwei angeblich in der Silvesternacht 2015/16 aufgenommenen Handyvideos – zeige, so der Tenor des Postings, einen „Mob von jugendlichen Allah-Kriegern“, der am Brüsseler Clemenceau-Platz zunächst einen PKW in einen U-Bahn-Eingang hinunterstoße und dann „mit moslemischem Allahu-Akbar-Kampfgeschrei“ den wenige Meter entfernt stehenden Weihnachtsbaum in die Luft jage. Obwohl sich die Herkunft des Videomaterials nicht eindeutig klären lässt und das verlinkte Video längst aufgrund von Verstößen gegen die Nutzungsbedingungen von YouTube gelöscht wurde, ist es weiterhin in Form zahlreicher Re-Uploads auf anderen Kanälen verfügbar.

Bei dem Material handelt es sich um verwackelte und unscharfe, da offenbar spontane Amateuraufnahmen. Obwohl die Personengruppen darauf bloß undeutlich zu erkennen sind, während sie einen Weihnachtsbaum in Brand setzen sowie ein Auto in einen U-Bahn-Schacht stoßen, ist der Vorwurf, den PI News und weitere Verbreiter des Videos daraus ableiten, eindeutig: Es handele sich bei den Randalierern um aggressive Muslime, manche User schreiben in den Kommentarfeldern von Flüchtlingen. Die Ausschreitungen seien ein weiterer Beweis, dass Muslime nicht integrierbar seien, dass der „Asyl-Wahnsinn“ ein folgenschwerer Fehler für ganz Europa sei – dass es eben nur deshalb zu den Unruhen in Brüssel kommen konnte, weil die Randalierer Muslime gewesen seien.

Das jedoch ist eine Ausdeutung, die weit über das hinausgeht, was im Material tatsächlich zu sehen und zu hören ist. In aller Eindeutigkeit kann das Video lediglich als Zeugnis von Einzelhandlungen einer eng umrissenen Gruppe Jugendlicher dienen – es belegt, was die zu sehenden Personen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort taten, nicht mehr und nicht weniger. Die Randalierer zum Symbol zu erheben, zum Prototyp „des muslimischen Flüchtlings“ zu ernennen, ist eine Interpretation des Geschehens, die sich genauso wenig aus den Bildern ergibt wie die generalisierende Schlussfolgerung auf die Zerstörungswut von muslimischen Flüchtlingen allgemein. Dieser Schluss basiert auf einer zugrundeliegenden politischen Überzeugung, die logische Leerstellen durch subjektive Ansichten kittet und das Video in einen Zusammenhang mit anderen bekannten Vorfällen – etwa die Kölner Silvesternacht – stellt.

Die Interpretation der Bilder zu kritisieren, bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, auch die Glaubwürdigkeit des Videomaterials an sich infrage zu stellen. Denn die Bilder scheinen in der Tat authentisch zu sein. Dass während der Silvesternacht 2015/16 in Brüssel sowohl ein Weihnachtsbaum in Brand gesetzt als auch ein Auto eine U-Bahn-Treppe hinuntergestoßen wurde, wird von Polizeiberichten, Pressemeldungen und Social-Media-Postings bestätigt. Dass es sich bei den Randalierern um einen „Mob von jugendlichen Allah-Kriegern“ – soll heißen: um junge Muslime – handelte, ist jedoch bereits weniger gewiss. Da deren Religionszugehörigkeit weder von Polizei noch Presse erwähnt wurde, handelt es sich um eine Mutmaßung seitens der Verbreiter des Videos, die auf der Feststellung beruht, dass „moslemisches Allahu-Akbar-Kampfgeschrei“ zu hören sei.

Das ist tatsächlich der Fall. Obwohl das „Allahu akbar“ im zweiten Clip nachträglich eingefügt wurde (früher veröffentlichte Versionen enthalten den Schrei nicht), ist in sämtlichen auffindbaren Versionen des Christbaum-Clips ein undeutliches „Allahu akbar“ zu hören. Die Unterstellung, wer „Allahu akbar“ rufe, müsse zwangsläufig auch Muslim sein, ist dennoch problematisch: Auf Video lassen sich zwar Handlungen festhalten, aber keine Handlungsmotivationen. Wieso die Randalierer taten, was sie taten, ist Interpretationssache – die Bilder allein können keine Erklärung dazu liefern. Es ist etwa grundsätzlich denkbar, dass die Jugendlichen nur zum Spaß „Allahu akbar“ riefen.

Doch selbst wenn bewusste Ironie für unwahrscheinlich erklärt wird, lässt sich nicht mit Gewissheit feststellen, dass die Teenager von ihrem Religionsverständnis zu den Ausschreitungen motiviert wurden. Weshalb genau es zu den Vorfällen gekommen ist, rätselten auch zahlreiche Presseberichte wenige Tage nach der Silvesternacht, sei unklar. Das Video zeigt schlichtweg nicht, dass die Randalierer gewalttätig wurden, weil sie Muslime sind – sondern es kann höchstens belegen, dass in der Silvesternacht Personen gewalttätig wurden, bei denen es sich darüber hinaus auch um Muslime handelte. Schlussfolgerungen, wie sie dem Blogeintrag auf PI News zugrunde liegen, erklären Korrelation zu Kausalität. Weshalb die beteiligten Personen so handelten und welche Bedeutung das Geschehen für die Gesellschaft hat, auf diese Fragen kann das Video keine Antworten geben. Es bezeugt lediglich ein singuläres Ereignis – daraus ein Symptom für ein größeres Problem abzuleiten, ist eine aktive Leistung des Betrachters.

Dem Gedanken, dass solche Interpretationen weit über die tatsächliche Beweiskraft der Bilder hinausgehen, wird allerdings keine Beachtung geschenkt. So sagt das Video in seinem jeweiligen Kontext effektiv aus, was die Uploader und Kommentatoren damit aussagen möchten – egal, ob es sich dabei um den „Archetyp des muslimischen Migranten“ oder den „rebellierenden Teenager“ oder den „Einzelfall“ handelt. Das Video wird zum beliebigen Instrument, um eine bereits im Vorfeld verfestigte politische Ansicht zu untermauern. Es dient nicht als Beweis für eine Weltanschauung, weil die Bilder so eindeutig sind, dass sie nur einen einzigen Schluss zulassen – sondern ganz im Gegenteil: Die uneindeutigen Bilder werden vom Betrachter so sehr mit Bedeutung angereichert, dass sie schließlich als Beweis für die eigene Weltanschauung gesehen werden müssen. Genau in dieser Dehn- und Verformbarkeit seiner möglichen Aussagekraft liegt die größte Tücke des Augenzeugenvideos.

Neal Graham