Während des gewaltsamen Ausbruchs des israelisch-palästinensischen Konflikts im Mai 2021 riefen pro-palästinensische Aktivist:innen zu globaler Solidarität und Protest auf. Zum ersten Mal spielte dabei die Videoplattform TikTok eine übergeordnete Rolle in der Medialisierung und Mobilisierung des Konflikts – mit weitreichenden Folgen für Form und Ausrichtung politischer Teilhabe.

Das am 14.05.2021 auf dem Channel @callmekoosh hochgeladene Kurzvideo des in Dubai ansässigen Comedians und Gamers Kourosh Vejahati verweist auf die neuen Strategien einer on- wie offline organisierten, ortsungebundenen, jungen Generation pro-palästinensischer Aktivist:innen auf TikTok. Was von einigen Seiten als „TikTok Intifada“ bezeichnet wurde und in aktivistischen Kreisen unter #GlobalizeTheIntifada firmierte, bildet einen losen Bezugsrahmen für den vielgestaltigen Content, der in seinen Ausdrucksformen die Spielräume zwischen populärkulturellen Bildwelten und den Creator-Funktionen der App auslotet.

In einer Konfliktsituation, die von beidseitiger Desinformation, der Aktivierung von antisemitischen wie anti-arabischen Ressentiments und identitärem oder impulsivem Parteiergreifen geprägt ist, laufen pro-palästinensische TikToks Gefahr, bei ihrer niedrigschwelligen und spielerischen Aktivierung öffentlicher Wahrnehmung Antisemitismus zu reproduzieren und den Weg zu einer Befriedung der arabisch-israelischen Beziehungen zu untergraben.

Share the message

Das elf-sekündige Video des Content Creators Kourosh Vejahati, der vor allem durch plattformtypische, oft slapstickhafte Comedy-Sketches, Gaming- und Reaction-Videos auf andere TikToks eine relativ große Community um sich versammelt, ist mit 9.3 Millionen Aufrufen und 2.4 Millionen Likes unter den in der Caption angegebenen Hashtags #freepalestine (insgesamt 8.7 Milliarden Videos), #savesheikhjarrah (927.3 Mio.) und #palestine (12.3 Mrd.) eines der erfolgreichsten.

Markant für die Ästhetik und die Spreadabiltity des Videos ist vor allem das Zusammenspiel verschiedener medialer Ebenen. Auf der Bildebene umfasst das Video zwei Teile: Zum einen ein kurzes Intro mit Vejahati selbst als Darsteller in einer Verhaftungsszene, in deren Verlauf er seinen Kopf in Richtung Kamera neigt und lächelt. Zum anderen enthält es Videoausschnitte und Fotografien von jungen palästinensischen Frauen und Männern in ähnlichen Situationen der Verhaftung oder Fixierung, die ebenfalls mit einem Lächeln in die Kamera blicken und damit die Zuschauer:innen direkt zu adressieren scheinen.

Der Schnittrhythmus ist an den unterlegten Song „Doubt“ des US-amerikanischen Crossover-Duos Twenty One Pilots angepasst. Der Song selbst zirkuliert auf TikTok allerdings unter der Bezeichnung „original sound – Faisal Bensaud“ und verweist so auf das Video des TikTokers Faisal Bensaud  (@faisalbensaud), der drei Tage zuvor – ein Tag nach Beginn des militärischen Konflikts am 10. Mai – das Mash-Up-Video der lächelnd Inhaftierten veröffentlichte. Die Lyrics des Songs ergeben in ihrer Anordnung eine besondere Bedeutung, da mit der Textfolge „Don’t know what’s inside of me“ und dem darauffolgenden Chorus „Don’t forget about me. Don’t forget about me“ das Intro und die Bildfolge in ihrer Intention verdeutlicht werden. So wird die Frage der Motivation des Lächelns in Bezug auf Vejahati als Protagonist in seinem eigenen Video gestellt, um danach im solidarischen Einbezug seiner Person in die darauffolgende Reihe von Figuren des palästinensischen ‚Widerstands‘ eine Verbindung zu etablieren, die durch den zugespitzten Liedtext und die direkte Adressierung als „message“ klar wird: „Don’t forget about me“.

Die Frage nach dem zunächst unbegreiflichen Lächeln der Verhafteten wird zu Beginn des Videos in einer Texteinblendung aufgegriffen: „They’re in pain but still smiling“, dazu ein Herz-Emoji und die palästinensische Flagge. Ergänzend zum symbolischen Gehalt der Bilder als Aufruf zum Hinsehen, Erinnern und zur solidarischen Empathie wird das Gefühl des Schmerzes (der Verhaftung, der Unterdrückung) aufgenommen und das Lächeln als Ausdruck der Stärke und der Verbundenheit mit der palästinensischen Sache markiert.

Ansteckendes Lächeln

Betrachtet man Kourosh Vejahatis Video als Teil der Medienumgebung TikTok, lassen sich einige Aussagen über die ideologische und diskursive Position und die zur Strategie werdenden spontanen Ausdrucksformen und unkoordinierte politische Teilhabe an der Solidarität mit Palästinenser:innen auf TikTok treffen.

Die zentrale Infrastruktur der App ist die individuell angepasste ForYouPage, deren vielbesprochener Algorithmus einen nicht-endenden Broadcast an Videos zusammenstellt, der nach Region, Trends, bisher konsumierten und geteilten Inhalten, Verweildauer und Kommentaraktivität erstellt wird. Unabhängig vom Umfang der Follower-Schaft können so Videos „trenden“ und in der ForYouPage unzähliger User:innen erscheinen. Die Reichweite erhöhenden Faktoren sind neben der Nutzung der von TikTok angebotenen Videotools, angesagter Filter und Mash-Up-Funktionen auch die Wirkkraft, die ein Hashtag-, Sound-, Tool- oder Challenge-basiertes Netzwerk entfalten kann. So kann etwa ein Video durch die Orthografie der Kommentare (Großschreibung, Ausrufezeichen) oder das Sharing-Verhalten „geboostert“ und seine Viralität gesteigert werden. Die Form des Contents sollte dazu mimetische, zur spielerischen Nachahmung und Aneignung anregende Qualitäten aufweisen.

Auf der Bildebene lassen sich Aufforderungen zur Nachahmung, Teilhabe und Mobilisierung feststellen. Das gesampelte Originalvideo von Bensaud, beinhaltet in den palästinensischen Gebieten populäre Bilder verschiedener zur Zeit des Konflikts von israelischen Sicherheitskräften inhaftierten Palästinenser:innen. Darunter bekannte Aktivistinnen wie Mariam Afifi, Muna Al-Kurd oder Ahed Tamimi, aber auch unbekannte, vor allem junge Menschen. Sie wurden während der auch durch palästinensische TikToks ausgelösten Konfrontation zwischen israelischen Demonstranten rund um die ultranationalistische Gruppe Lehava und palästinensischen Extremisten in Ost-Jerusalem verhaftet. Daneben werden Verhaftungen gezeigt, die während der gewaltsamen Auseinandersetzungen in sogenannten ‚gemischten‘ Städten Israels vorgenommen wurden, vor allem aber während der Proteste gegen die umstrittene polizeiliche Räumung des Hauses der palästinensischen Familie Al-Kurd im Ost-Jerusalemer Viertel Sheikh Jarrah (Shimon HaTzadik). In alternierenden Versionen des Mash-Up-Videos sind die jeweiligen Zielgruppen des Aufrufs mitabgebildet: etwa das amerikanische Model Bella Hadid, dessen Vater palästinensisch-libanesischer Herkunft ist und die sich im Verlauf der globalen Proteste als palästinasolidarisch zeigte. Aber auch von anderen Nutzer:innen erstellte Nachahmungen der Verhaftungen werden zwischen die zirkulierenden Medienbilder eingefügt. Zum Ausdruck gebracht wird eine mimetische, audiovisuell abbildbare und damit teilbare Solidarisierung.

Die auch hier zentrale Geste des Lächelns war bereits vor ihrer Verbreitung via TikTok in vorangegangenen Konfliktlagen durch arabisch-palästinensische Medien zu einem Akt des Widerstands gegen die behauptete israelische Unterdrückung und Besatzung stilisiert worden. Verbreitung fanden die Fotografien zunächst auf Websites arabischer Zeitungen, in Internetforen islamischer Communities in Südostasien sowie auf Twitter. Freigelegt wurde bereits hier die vom Entstehungskontext entkoppelte, moralisch verstärkende Funktion der Bildikonen. Gemäß ihrer Symbolik von ‚David gegen Goliath‘, wurden sie vor allem der islamischen Welt als Zeugnis der asymmetrischen militärischen Konfrontation zwischen einer zivil agierenden muslimisch-palästinensischen Minderheit und einer unverhältnismäßig reagierenden und allgemein unrechtmäßigen jüdisch-israelischen Mehrheit präsentiert. Propagiert wird eine Umkehr der Verhältnisse durch innerislamischen Zusammenhalt und religiöse Solidarität, also ein Ende des Staates Israel als jüdischem Staat.

Die religiös konnotierte Wahrnehmung des Lächelns als vermeintlich ‚wissendes‘, besagend, dass Allah die Taten des palästinensischen ‚Widerstands‘ als gerecht wertschätze und die Taten ihrer Feinde – den Kommentaren nach wahlweise Israel, ‚der‘ Zionismus oder ‚die‘ Juden – rächen wird, findet sich auch in den Kommentaren zu Vejahatis Video, zum Originalvideo von Faisal Bensaud oder auch zu den unter „original Sound“ auffindbaren Nachahmungen. Bensaud, der in seinem Video auf die einführende Geste der Nachahmung verzichtet, leitet es mit den Worten ein: „They are smiling because they know what Allah will do.“ Die Offenheit der Formulierung lädt zur Vollendung des Gedankens ein: Was wird Allah tun?

#PalestinanLivesMatter

In der vielfältigen Reihe von Adaptionen der hier besprochenen Videos – sie reichen von Make-Up Tutorials aus der texanischen Diaspora, Fan-Accounts bekannter TikToker bis hin zu italienischen und niederländischen Poster-Boys, die in eigens bereitgestellten TikTok Houses produzieren – fallen zwei Stilmittel besonders auf: zum einen die Adaption prominenter Symbole, Hashtags und Topoi der Black Lives Matter-Bewegung nach dem rassistischen Mord an George Floyd durch einen Polizisten im Jahr 2020; zum anderen die Bezugnahme auf populäre K-Pop-Bands.

Nicht zuletzt seit einer auf TikTok kursierenden Behauptung, die koreanische K-Pop-Band BTS habe sich auf einem Konzert als Sympathisantin der palästinensischen Sache gezeigt, wird versucht, durch sogenannte Duets oder Reaction-Videos unter Verwendung von Medienbildern der Band, deren Fanbase für die palästinensische Agenda zu mobilisieren. Dieses Vorgehen zeitigte Erfolge, als Fan-Accounts mit großer Follower-Schaft zu Spenden an palästinensische Organisationen und Solidarisierung aufriefen. Ähnliche Wirkkraft in politischen Konflikten hatten gut vernetzte Fan-Accounts prominenter K-Pop-Bands bereits während der Black Lives Matter-Proteste gezeigt. Aber auch abseits mobilisierender Funktionen nahmen die K-Pop-Fans eine politische Rolle wahr: Sie gründeten eigene Fundraiser, verteilten Bildungsressourcen, unterwanderten Wahlkampfveranstaltungen Donald Trumps, spamten Hashtags wie #WhiteLivesMatter mit Fan-Content zu oder hinderten die Polizei von Dallas an der Identifizierung von Teilnehmenden einer BLM-Demonstration.

Die Hinwendung palästinensischer Aktivist:innen zu diesem politischen Diskurs erscheint besonders dann als gewollt, wenn man sich die bildsymbolische und Hashtag-basierte Verschlagwortung und Adressierung von Black Lives Matter vor Augen führt. Am eindrücklichsten ist die bereits beschriebene, von Kourosh Vejahati eingeführte und vielfach nachgeahmte Geste vom Knie oder Stiefel im Nacken, die an die bittere Ikonografie des Mordes an George Floyd und weiteren Schwarzen US-Amerikanern und Amerikanerinnen gemahnt. Die unterstellte Gemeinsamkeit des Kampfes gegen rassistische Unterdrückung wird symbolisiert und eine Solidarisierung unter Absehung der Differenz zwischen den Konflikten gefordert.

Den niemals bildlich wirklich konkretisierten Unterdrückern (sie werden meist allein durch militärische Kleidung symbolisiert) wird das empowerende Lächeln der palästinensischen Widerstandsfiguren entgegengesetzt. Das Symbol des Widerstands wird hier nicht religiös konnotiert, sondern als allgemein menschliche Geste angesichts der ‚Unmenschlichkeit‘ oder der Bedrohung von Menschenrechten inszeniert. Der verbildlichte Schulterschluss mit antirassistischen Kämpfen wird in den meisten der gesichteten Beispiele wie auch in den Kommentaren zu Vejahatis Video entweder durch #PLM (Palestinian Lives Matter) und Sätzen wie „We Can’t Breathe“ und „Palestinians can’t breath since 1948“ zugespitzt oder um weitere Bildelemente wie einen zugehaltenen Mund, zumeist mit „Zionist“, „Media“ oder Davidstern als Aufschrift und aufgemalten Blessuren oder Blutspuren, ergänzt. Eine weitere stilbildende Modifikation ist die Verwendung des Soundtracks „Stand Up“ des 2019 erschienen Kinofilms Harriet, der die Geschichte der Sklaverei in den USA thematisiert.

Antizionismus

Solche Verbindungen der Kämpfe von Palästinenser:innen mit den in den letzten Jahren erstarkten antirassistischen Bewegungen war während des Konflikts auch auf anderen sozialen Medien wie etwa Instagram zu beobachten. Hier wurden vor allem Gefühle der Verantwortlichkeit innerhalb politischer Milieus geweckt, die sich mit Antirassismus und Menschenrechten identifizieren, aber noch kein ausgeprägtes Interesse oder Wissen über den israelisch-palästinensischen Konflikt hatten. Gerade innerhalb der US-amerikanischen und der westeuropäischen Linken trifft dies auf zwei Tendenzen des politischen Diskurses: zum einen auf eine, auch unter jüngeren amerikanischen Juden und Jüdinnen feststellbare Abflachung der Sympathien für den Staat Israel – was auch im Kontext der erfolgreichen Kampagnen auf Social Media zu betrachten ist –, zum anderen auf einen sich weiter ausbreitenden Antizionismus, programmatisch etwa für das aus den Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar, Ayanna Pressley, and Rashida Tlaib bestehende populäre „Squad“ der Demokratischen Partei.

Dieser Antizionismus war während des Konflikts vernehmbar auch durch antisemische Verschwörungserzählungen, die ebenfalls in den Videos der besprochenen Reihe referenziert werden. Durch tendenziöse Verschlagwortungen wie „Settler Colonialism“ oder „Apartheid“ in Bezug auf den multiethnischen, jüdischen und demokratischen Staat Israel wird eine Verbindung zu postkolonialen Diskursen hergestellt und Palästinenser:innen als Opfer markiert, die einen gerechten, wenngleich gewalttätigen Kampf gegen ihre Unterdrücker führen. Zurückgegriffen wird auf einen Manichäismus, der historische Hintergründe und eine differenzierte politische Analyse des Konflikts verdrängt. Stattdessen setzt man auf Begriffsschablonen, die den Jüdischen Staat und seine Bevölkerung in den Augen einer vermeintlich an Menschenrechten interessierten und diskriminierungskritischen Öffentlichkeit delegitimieren und als ‚faschistisch‘ und ‚rassistisch‘ dämonisieren soll.

Deutlich wird dies durch einen vielfach aufgegriffenen Mythos, der im Motiv vom Knie oder Stiefel im Nacken symbolisch zugespitzt wird. Die Geste, die an die Ermordung George Floyds gemahnt, war während der weltweiten Proteste 2020 zum Ausdruck rassistischer Polizeipraxis geworden. Bereits zum damaligen Zeitpunkt wurde sie mit Israel in Verbindung gebracht. So hatten einige antizionistische Gruppen in den USA, unter anderem BDS, Jewish Voices For Peace und die Nation of Islam behauptet, diese Praxis der Fixierung einer Person sei der Polizei von Minnesota, verantwortlich für den Tod Floyds, durch israelische Sicherheitskräfte in einem Austauschprogramm beigebracht worden. Diese Behauptung, vielfach reproduziert und auf Social Media massenhaft verbreitet, wurde widerlegt: Diese und ähnliche Praktiken sind in Israel, anders als zum Zeitpunkt des Austauschs in Minnesota, gesetzlich verboten und werden auch in der Ausbildung israelischer Sicherheitskräfte nicht vermittelt.

Vor diesem Hintergrund kippt das spielerische Moment der hier beschriebenen TikToks. Sie nehmen propagandistische und antisemitische Züge an. Diese wurden auch – zum Leidwesen von Juden und Jüdinnen außerhalb Israels – in die globalen Solidaritätsproteste im Mai 2021 hineingetragen und markierten jüdische Menschen und Institutionen als Objekte der Aggression und des antisemitischen Terrors.

Zwar tragen die erleichterte Adaptierbarkeit, das mimetische Potenzial und die fluide Verbreitung von aktivistischen TikTok-Videos zu einer globalen Wahrnehmung des realen Leids von Palästinenser:innen bei und ermöglichen den Nutzer:innen so einen niedrigschwelligen Einstieg in politischen Aktivismus. Dies vollzieht sich aber unter gesellschaftlichen und plattformspezifischen Bedingungen, die das Entfachen alter und neuer antisemitischer Verleumdungen, die Verbreitung von Desinformation und eine manichäische Konfliktwahrnehmung begünstigen und letztlich einer interessenausgleichenden Lösung des Konflikts im Wege stehen.

Jonathan Guggenberger