Im Video „Dieses Plakat könnte der Grund für meine Festnahme sein“ dokumentiert die belarussische Künstlerin Ulyana Nevzorova ein Happening in der Minsker Metro. Durch die appelative und performative Form bindet Nevzorova gezielt das Online-Publikum in ihre Aufführung ein und bewegt zu einer kritischen Wahrnehmung alltäglicher Situationen.

Am 22. Oktober 2020 tritt die belarussische Künstlerin Ulyana Nevzorova in der Minsker Metro mit einem weißen Blatt Papier mit der Aufschrift „Dieses Plakat könnte der Grund für meine Festnahme sein“ auf. Die junge Frau steht bewegungslos in der Mitte des vollbesetzten Wagens und hält das Banner direkt vor sich. Die improvisierte Mahnwache entwickelt sich zu einem interaktiven Happening, das von einer unbeweglichen Kamera aufgezeichnet wird.

Die frontale horizontale Halbnahaufnahme mit dem schnittlosen Handlungsablauf vermittelt den Eindruck einer bewegten Fotografie. Die passive Kamera verrät ihre Anwesenheit nicht, sondern konzentriert sich ganz auf das Geschehen, das sich spontan im Bild entfaltet. Das leichte Wackeln, die Unschärfe des Webvideos und der Verzicht auf den Schnitt sind konventionelle Marker für Authentizität im Video (Fahlenbrach 2019), während gleichzeitig die symmetrische, betont gestellte Komposition deutlich dagegenspricht. Die Künstlerin steht genau in der Mitte des Wagens und wird von oben durch ein zentrales weiches Lampenlicht beleuchtet, wobei auch der Kamerablitz auf sie gerichtet ist. Die Frau mit dem Plakat ist das am deutlichsten herausragende Element der Komposition und wird zudem durch die Lichtgestaltung so in den Vordergrund gerückt, dass sie als semantisches Zentrum des Bildes erscheint.

Die Reisenden befinden sich am Rande des Bildausschnitts. In den ersten Sekunden versucht eine Frau von links, der Künstlerin das Plakat aus den Händen zu entreißen, dann zoomt die Kamera etwas heraus, um rechts einen empörten Mann zu erfassen. Nun stellt die Halbtotale die Beziehung zwischen der Künstlerin und den zufälligen Teilnehmer*innen des Happenings in den Mittelpunkt. Die Einstellungsgröße lässt auch die Gestik und Mimik der Anwesenden erkennen, die im Gegensatz zur Ausdruckslosigkeit der Künstlerin ein breites Spektrum verschiedener Emotionen von Irritation bis zu Zustimmung zeigen.

Die Gespräche der Anwesenden sind kaum zu verstehen: “Schande! Keine Ausbildung, keine Lebenserfahrung, gar nichts. Was steht sie denn da herum? Sie soll festgenommen werden”. In diesem Konflikt zeigt die dokumentierende und scheinbar neutrale Kamera ihre parteiische Position, indem sie die protestierende Frau in die Mitte stellt, ihre Wahrnehmungsperspektive vermittelt und so für sie Partei ergreift. Während ein junger Mann im Hintergrund eine weiß-rot-weiße Fahne entrollt, ertönt eine empörte Frauenstimme. Die solidarische Protestfahne schließt den Kurzfilm ab, wodurch der Konflikt symbolisch zu Gunsten der Protestierenden aufgelöst wird.

Die statische Bildkomposition, der alltägliche Schauplatz, die geringe Beleuchtung, der rauschige Ton und die gemächliche Handlung sorgen für den Authentizitätseffekt des Webvideos, das beansprucht, eine wahrheitsgetreue Wiedergabe des alltäglichen Geschehens zu sein. Tatsächlich fängt die Kamera die Menschen bei einer gewöhnlichen Metro-Fahrt ein. Dennoch finden sie sich in einem improvisierten künstlerischen Akt vor der Kamera wieder. Bei Nevzorovas Aktion handelt es sich also um ein Happening. Das Video ist weniger ein Abbild der Alltagsrealität als eine Art performative Fotografie („performed photography“), inszeniert nicht für ein unmittelbar anwesendes, sondern für ein fernes (Online-)Publikum. Das heißt, der Raum des audiovisuellen Dokuments wird so zum primären Raum, in dem sich die Performance ereignet (Auslander 2006).

Die Kamera ist dabei kein neutrales Werkzeug zur Dokumentation der Geschehnisse, sondern wird selbst zu einem Element der Performance. Bloß durch ihre sichtbare Präsenz vor Ort lässt sie das Geschehen als ein außergewöhnliches Ereignis erscheinen, das es zu beobachten gilt. So erregt sie die Aufmerksamkeit des anwesenden Publikums. Das aus dieser Situation entstehende Webvideo dokumentiert das Geschehen, verfremdet es aber auch für die abwesenden Zuschauer*innen.

Indem zum Beispiel die Frau mit dem Plakat im Zentrum des symmetrischen Bildes steht und direkt in die Kamera blickt, wird ein Verfremdungseffekt im Sinne Bertolt Brechts (Brecht 1967) erzeugt und eine kritische Distanz zum Dargestellten ermöglicht (Shklovsky 1970). Das Video lädt so zur kritischen Reflexion über die Alltagsrealität ein, deren authentisches Abbild es gleichzeitig vorgibt zu sein und interveniert mit seiner dokumentarischen Form in die politische Krise des Landes. „Dieses Plakat könnte der Grund für meine Festnahme sein“ ist eine künstlerische Stellungnahme zur mangelnden Versammlungsfreiheit in Belarus, macht die gesellschaftliche Spaltung sichtbar und verdeutlicht die Rolle von Bildern im aktuellen politischen Konflikt.

Sophija Savtchouk