In ihrem vielfach geteilten Video „LASTESIS. Plaza Sotomayor 29.11.2019. VALPARAÍSO, CHILE.“ bereitet das feministische Kollektiv LASTESIS die Aufführung ihrer Performance „Un violador en tu camino“ videoästhetisch auf. In der ästhetischen Vermittlung von Performer*innen, Protestbewegung und Publikum werden gemeinsame Perspektiven im Kampf gegen sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch etabliert und die sharebalitiy des Videos als Implikation inszeniert.
Im November 2019 performte das feministische Kollektiv LASTESIS (dt.: die Thesen) in Valparaíso „Un violador en tu camino” (dt.: Ein Vergewaltiger in deinem Weg), einen Sprechchor mit dazugehöriger Choreografie. Im Kontext der Proteste in Chile Ende 2019 entstanden, behandelt die Performance (sexualisierten) Machtmissbrauch durch Polizei und Staat(-sbedienstete) und gesellschaftliches victim blaming, also die Schuldumkehr in Fällen von sexualisierter Gewalt. Das Video „Un violador en tu camino“ dokumentiert die gleichnamige Performance – die an verschiedenen Orten weltweit adaptiert wurde – auf dem YouTube-Kanal des Kollektivs.
Das Video beginnt mit einer kurzen Einblendung des Namens des Kollektivs, während bereits im Hintergrund die Geräusche einer Straße, Stimmen und Hundegebell zu hören sind. Durch die Einblendung direkt zu Beginn wird sowohl eine Autor*innenschaft verdeutlicht als auch eine selbstdokumentierende Perspektive etabliert. Es folgen Aufnahmen der Menschenmenge auf der Plaza Sotomayor. Die filmende Person schaut dabei nicht von außen auf die Aktion, sondern bewegt sich innerhalb der Protestgemeinschaft.
Im weiteren Verlauf des Videos wird immer wieder eine Bild-im-Bild-Perspektive genutzt, die im äußeren Bild die Menschenmenge zeigt, im inneren, Nahaufnahmen von einzelnen Protestierenden. Diese Close-Ups zeigen meist Mitglieder des Kollektivs LASTESIS. Wie die anderen Protestierenden tragen sie schwarze Augenbinden und grüne Halstücher, Symbole feministischer Bewegungen in Südamerika. Darüber hinaus sind die Mitglieder des Kollektivs an ihren roten Overalls zu erkennen – ein einheitliches Outfit also, das sie klar vom Rest der Protestierenden abhebt.
Die Nahaufnahmen werden nur als Teil der Bild-im-Bild-Perspektive gezeigt, der Blick auf das Gesamtgeschehen bleibt so bestehen. Es werden also immer wieder einzelne Personen hervorgehoben, der Fokus liegt jedoch auf der protestierenden Menschenmenge.
Dies wird auch durch wiederholte Aufnahmen aus der Vogelperspektive deutlich. Direkt zu Beginn werden die Protestierenden von oben gezeigt. Dabei zoomt die Kamera immer weiter heraus, sodass das Ausmaß der Menschenmenge erst nach und nach sichtbar wird. Auch in frontalen Aufnahmen sind stets die vielen Reihen von Teilnehmer*innen zu sehen. So erscheint „Un Violador En Tu Camino“ nicht nur als die Performance einer kleinen Gruppe, sondern vielmehr als breite Protestbewegung. Dieser Eindruck wird durch Aufnahmen von beistehenden Menschen ergänzt, die die Performance mit Kameras und Handys filmen. Durch sie wird die öffentliche Aufmerksamkeit vor Ort visualisiert und gleichzeitig die shareability der Performance impliziert. Das tatsächlich erfolgte, vielfache Geteiltwerden des Videos in Sozialen Medien wird vorweggenommen und angeregt.
Darin fügt sich auch der Schluss: Das Video endet mit einem eingeblendeten „CONTINUARÁ“ und mit Angaben zu den Social-Media-Kanälen des Kollektivs. Dadurch wird erneut LASTESIS’ Autor*innenschaft hervorgehoben. Das Kollektiv inszeniert sich so als eine eigenständige kleine Gruppe innerhalb einer größeren Protestbewegung. Die Einblendung „CONTINUARÁ“ verweist zudem auf die geplante Fortführung der Aktion. In Kombination mit dem dokumentierten Gemeinschaftsgefühl und den leicht adaptierbaren Bewegungen der Choreographie, werden aber auch Handlungsmöglichkeiten für andere Akteur*innen offengelassen.
Die Choreographie selbst beinhaltet verschiedene, in klare symbolische Formen gegossene Bewegungen, welche an verschiedenen Stellen wiederholt werden: Synchron zur Benennung unterschiedlicher Formen sexualisierter Gewalt auf textlicher Ebene, wird eine Kniebeuge gemacht und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Dieser Bewegungsablauf verweist auf die oftmals brutale Behandlung während einer Festnahme durch die Polizei.
Eine weitere sehr markante Bewegung ist das Austrecken des Arms und das Zeigen mit ausgestrecktem Finger in verschiedene Richtungen. Hier wird die Zeile „El violador eres tu“ (dt.: Der Vergewaltiger bist du) pointiert verbildlicht.
Darüber hinaus werden einfache, rhythmische (Tanz-) Bewegungen, wie z.B. seitliche Schrittfolgen ausgeführt, die dem Beat der musikalischen Untermalung der Performance folgen.
Dass diese Adaptierbarkeit der Performance aufgeht, zeigen Aufführungen von „Un Violador En Tu Camino“ in verschiedenen Kontexten auf der ganzen Welt, wie dem Women’s March in Washington D.C., im Rahmen (spontaner) Massenproteste in Mexico City und Berlin oder als einzelne Aktion kleiner Gruppen wie in Istanbul. In ihrer transnationalen Vernetzung verweisen die Aktionen und ihre Bilder so auf die globale Relevanz des Kampfs gegen Femizide und sexualisierte Gewalt, genau wie auf die Macht sozialer Medien und aktivistischer Webvideos, solche Proteste zu verbreiten, zu befeuern und zu vergrößern. Diese Impact-Strategie des Videos scheint zu weiten Teilen aufzugehen. Davon zeugt nicht zuletzt die Nennung von LASTESIS in der Liste der „100 Most Influential People of 2020“ des TIME-Magazins.
Ricarda Köstner