Extremistische Online-Propaganda des Islamischen Staates: das Rekrutierungs- und Motivationsvideo NO RESPITE („Kein Aufschub“).
NO RESPITE, zu Deutsch „Kein Aufschub“, ist ein dschihadistisches Propagandavideo, das im Auftrag des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) vom „al-Hayat Media Center“ produziert und am 24. November 2015 auf einer Vielzahl von Videoplattformen – darunter Youtube und Liveleak – veröffentlicht wurde. Wie bei extremistischen Clips üblich, wurde das Video bereits nach kurzer Zeit aufgrund von Verstößen gegen die Nutzungsbedingungen der jeweiligen Plattformen entfernt und tauchte, hochgeladen unter neuem Namen und von anderen Accounts, auf verschiedenen Seiten wieder auf. Da es keine zentralisierte IS-Plattform und damit auch nicht länger einen „offiziellen“ Upload gibt, variiert die Anzahl der Aufrufe und hinterlassenen Kommentare stark.
Im schnellen Wechsel zeigt das Video eine Reihe animierter Grafik-Einblendungen, mit denen die historische, militärische, politische und religiöse Dimension des Kriegs des „Westens“ gegen die „islamische Welt“ umrissen werden soll – gipfelnd in einer Herabwürdigung der Vereinigten Staaten und einer direkten Kriegsaufforderung an die „Koalition der Teufel“: „Bring it on, all of you!“ – „Zeigt, was ihr alle drauf habt!“ Das Video beginnt mit einem vergleichenden Überblick über die Macht und Ausdehnung des „Khilafah“, des zum „Kalifat“ ernannten Territorium des IS, dessen Fläche laut der in perfektem Englisch artikulierenden Sprecherstimme aus dem Off bereits größer sei als ganz Großbritannien. Als negative Kontrastfolie werden der westliche säkulare Staat, seine Gesetzgeber und Akteure visualisiert, deren Interessen von den Soldaten des Westens verteidigt würden. Es folgen nacheinander eingeblendete Portraits von Obama, Bush und Clinton, die in zunehmend drastischer Wortwahl als ebensolche „Gesetzgeber“ (als Anspielung auf die Unvollkommenheit menschengemachten Rechts gegenüber dem göttlichen Gesetz), „Lügner“ (als Anspielung auf Bushs Rechtfertigung des Irakkrieges) und in der englischen Version als „Hurenböcke“ (als Anspielung auf Clintons außereheliche Affäre) betitelt werden. Bildmaterial einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats über die Verfolgung von Homosexuellen durch den IS wird zudem kommentiert als verkommenes Interesse, „für die Freiheit von Sodomiten“ zu kämpfen.
Auf diese plakative Ausbreitung des unterstellten Feindbildes „Westen“ folgt die positive Hervorhebung des Islamismus: Männlichkeit, Religiosität und Einheit werden zu den Prämissen für militärische Stärke und erfolgreichen Widerstand erhoben, eine „heroische Anti-Haltung“ gegenüber dem bestehenden, westlich geprägten System preisend. Es folgt das Bekenntnis zum „Tauhīd“, den Glauben an die Einheit und Einzigkeit Gottes, wider den stark negativ besetzten Gegenbegriff „Schirk“, zu Deutsch: „Götzendienst“, der vom religiösen Eifer der IS-Kämpfer in einer sinnbildlichen Flammenbrunst geläutert wird. Außerdem richtet sich die Kritik des Videos gegen den „Nationalismus“, der die arabische Welt nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches neu aufteilte und, so die implizite Unterstellung, zu Unterdrückung und Spaltung durch das Sykes-Picot-Abkommen geführt habe. Die zugrundeliegende Freund-Feind-Dynamik wird durch ein konsequent eingehaltenes visuelles Konzept unterstrichen: So wird das Feindbild der westlichen Politik stets mit schwarzem Hintergrund und einem dunkel bewölkten Himmel untersetzt. Die wortwörtliche Dunkelheit wird dann durch helle, lichtdurchflutete Bilder der IS-Soldaten gebrochen. Das Ziel, den durch Gott legitimierten Dschihad „vereint unter einer Flagge“ – unter dem Banner des IS – zu beschreiten, wird somit verherrlicht, die Zerschlagung des Nationalismus und die Zerstörung antiker Stätten der Vielgötterei wie Palmyra und Hatra wird, dargestellt durch Flammenmeere und staubende Trümmerhaufen, indes als einzig richtige Konsequenz glorifiziert.
Mit geschickt gewählten Foto-Einblendungen soll zudem die Idee der Zugehörigkeit propagiert werden: Arm in Arm nebeneinanderstehend, lächeln vier Männer unterschiedlicher Hautfarbe, aber alle in Soldatenuniform, in die Kamera. Nur die Einheit und Gerechtigkeit vor Gott im Namen der Schari´ah, der göttlichen Gesetze, zähle, so der Tenor des Videos. Herkunft und persönlicher Hintergrund spielten keine Rolle: „Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Araber und einem Nicht-Araber“, heißt es da in einem Seitenhieb gegen den latenten Rassismus, der der amerikanischen Bevölkerung unterstellt zu werden scheint, „zwischen einem Schwarzen und einem Weißen“ – ergänze: bis auf seinen Glauben. Auch das Alter sei egal: Jungen im Kindes- und Teenager-Alter posieren, Koran und Sturmgewehre in der Hand, vor der wehenden IS-Flagge als Nachwuchs-Armee.
Diese Glorifizierung der eigenen Mission und ihrer Anhänger wird wiederum von einer Herabwürdigung des „Feindes“ abgelöst: Die amerikanische Armee wird als zahlenmäßig überlegener, aber moralisch gebrochener Zusammenschluss unentschlossener, suizidgefährdeter und geistig wie körperlich schwacher Menschen dargestellt. Die US-Armee, legt die Sprecherstimme nahe, zerbreche von innen heraus, noch bevor sie überhaupt den Kampf mit den IS-Kriegern begonnen habe – und sie sei darüber hinaus verschwenderisch und wirtschaftlich ineffizient. Ohne Nennung von Quellen werden die Kosten des „Krieges gegen den Islam“ und damit „die“ Muslime mit Diagrammen „belegt“. So wird einer US-Rakete im Wert von 250.000 Dollar einer 50 Cent teuren Gewehrkugel gegenüber gestellt mit dem impliziten Hinweis: „Wir“ kämpfen genauso effizient wie ihr. In einer weiteren Zuspitzung wird das eingeblendete Wappen der Combined Joint Task Force (CJTF) als „Koalition der Teufel“ abgetan – samt flammender Portraits des Regierungschefs des Iran sowie der Staatschefs Russlands und der Türkei. Es folgt eine direkte Herausforderung an die Anti-IS-Koalition: Die internationale Front gegen den IS gebe es nur, weil die „die Millah von Kufr“, die Armee der Ungläubigen, sich stets vereinen werde, um die Wahrheit zu bekämpfen. „Eure Soldatenstärke“, heißt es ferner, „steigert nur unseren Glauben“. Der Sprecher paraphrasiert eine Prophezeiung Mohammeds aus dem Koran und interpretiert sie als Garantie des Sieges gegen die Koalition, symbolisiert durch ein Raster aus Flaggen: Wenn die Zahl der Feindnationen auf 80 gestiegen sei, werde es bei der nordsyrischen Stadt Dabiq zum feurigen Endkampf kommen, bei dem die muslimische Armee auf den Feind treffen werde.
„Wir fordern Euch heraus“, ist abschließend zu hören, während ein breitbeinig vor dem wehenden schwarzen IS-Banner posierender Soldat, die vierte Wand durchbrechend, direkt auf den Zuschauer zeigt. Während das Bild aus der anfänglichen Nahaufnahme langsam herauszoomt, fordert der Sprecher alle Feinde heraus, sich gegen den IS zu verschwören und ihm „no respite“, keinen Aufschub, keine Frist und keine Wartezeit zu gönnen. Denn, verkündet die mit donnerndem Hall unterlegte Stimme: „Unser Verbündeter ist der Größte, er ist Allah.“ Schließlich wird, untermalt von Gebetsgesängen, die 10. Sure des Korans (Yunus 10:71) eingeblendet, die erneut bekräftigt, die Feinde mögen sich verschwören und „ohne Aufschub“ ihren Angriffsplan in die Tat umsetzen. Das Element des Märtyrers wird hier nicht nur durch beinahe paradiesische Ruhe, sondern auch durch die entschlossene, selbstsichere Provokation des „feindlichen Bündnisses“ hervorgehoben.
Die besondere Wirksamkeit des Propagandavideos begründet sich in dessen professioneller Hochglanz-Ästhetik – es ist wie die meisten dieser Clips in Full-HD-Qualität und im 16:9-Format produziert. Ebenfalls ein wohl bewusster stilistischer Handgriff ist die Annäherung an die Computerspiel-Ästhetik des First-Person-Shooters: Die schnelle Abfolge animierter Landkarten, Figuren, Flaggen und Logos erinnern entfernt an die Aufmachung der „mission briefings“ etwa in modernen Militär-Shootern. Die Ästhetik der „coolen“ Operation mit dem Flair eines spannenden, actionlastigen Kampfeinsatzes ist nicht ohne Grund gewählt, dürfte sie für Jugendliche doch ausgesprochen reizvoll sein. So beschreibt Wolfgang Schmid diese Tendenz als Entwicklung einer neuen „counter-culture“, bei der sich unter anderem auch die Spiele-Industrie und der Einfluss des Internets mit der „Ideologie der militanten Islamisten“ vermischt.[1]
Das heroische Pathos des Videos wird mit einer auditiven Endzeit-Kulisse, einer imposanten Sprecherstimme sowie ermutigenden Männerchören verstärkt. Die Motivation ist eindeutig: Moral und Zusammenhalt gegen einen gemeinsamen Feind – der Westen und seine Verbündeten, speziell die Vereinigten Staaten – sollen untermauert werden. Der IS wird demgegenüber als emanzipierte Helden-Organisation gezeigt, die sich gegen das generalisierte „Böse“ in Form eines ineffizienten internationalen Militärbündnisses und der von ihm vertretenen Werte stellt.
Zentral für die Selbstinszenierung des IS und seiner Kämpfer ist der Rückgriff auf stereotype Rollenbilder und idealisierte Archetypen – vornehmlich bärtige, breit gebaute und entschlossen dreinblickende Soldaten. So präsentiert sich der kampfbereite Islamist als Prototyp des Alphamannes und Leitmodell, wodurch vor allem westlich sozialisierte junge Männer angesprochen und potenziell mobilisiert werden sollen.
Dem Zuschauer wird bei alledem nicht nur ein spezifischer Wissensstand zugemutet. Er soll auch unterschwellig dazu gebracht werden, sich näher mit den Zielen des sogenannten „Islamischen Staates“ zu befassen und dabei die historischen Hintergründe, Motivationen und Rechtfertigungen für den Kampf nachzuvollziehen. Der Appell des Videos richtet sich jedoch nicht nur an potenzielle Rekruten und Sympathisanten, sondern insbesondere auch an die internationale Gemeinschaft und deren Streitmächte. Diese sollen, so die Aufforderung, dem IS „ohne Aufschub“ im Kampf gegenübertreten, um so den prophezeiten Endkampf heraufzubeschwören.
Sami G.