Eine junge Frau teilt im populären ‚One Photo a Day‘-Format ihre Erfahrung mit häuslicher Gewalt auf YouTube. Dieser spezielle Hintergrund des Videos wird jedoch erst allmählich offensichtlich.

2012 ist das schlimmste Jahr im Leben einer jungen Frau. Täglich nimmt sie ein Selfie von sich auf und fügt diese Fotos anschließend in chronologischer Abfolge zu einem kurzen Video zusammen. Sorgfältig geschminkt, schicke Kleidung, ein leichtes Lächeln auf den Lippen – sie unterscheidet sich kaum von der typischen Influencerin auf YouTube. Doch in der 19. Sekunde des insgesamt nur 1:19 Minuten langen Videos wird erstmals eine Veränderung sichtbar: Im unteren Gesichtsbereich ist ein Hämatom nicht zu übersehen, das Lächeln verschwindet. Der anfangs selbstbewusste Ausdruck weicht einem zunehmend verzweifelten. Auch die Orte, an denen die Bilder aufgenommen werden, variieren mit der Zeit kaum noch. Während sich die junge Frau zu Anfang noch vor wechselnden Hintergründen fotografiert, verengt sich im weiteren Verlauf der Raum. Zum Ende hin entstehen die Selfies nur noch in ihrer Wohnung. Die Anzeichen von Missbrauch und Gewalt nehmen an Häufigkeit und Deutlichkeit zu: zwei blaue Augen, Hämatome an Wange, Stirn und Kinn, eine aufgeplatzte Lippe und Würgemale am Hals. Das letzte Bild zeigt die junge Frau mit gravierenden Verletzungen im Gesicht. Sie hält ein weißes Papier in der Hand, darauf ein Hilferuf: „POMOZITE MI. NE ZNAM DA LI CU DOCEKATI SUTRA“ (Hilf mir. Ich weiß nicht, ob ich bis morgen überleben werde).

Bereits der Titel „One Photo a Day in the Worst Year of My Life“ verweist auf die besondere Erzählstruktur des Videos. Orientiert ist es an dem weit verbreiteten, fotodokumentarischen ‚One Photo a Day‘-Format. 2006 teilte der amerikanische Fotograf Noah Kalina unter dem Titel „Everyday“ erstmals ein solches Video auf YouTube; bis heute wurde es ca. 26 Millionen Mal aufgerufen. Die Referenz auf das Original des Internet-Trends ist umso deutlicher, da auch die Originalmusik übernommen wurde: ein instrumentales Klavierstück der Pianistin Carly Comando. Diese getragene, emotionale Untermalung steht im Kontrast zur extremen Geschwindigkeit, mit der die Einzelbilder aufeinander folgen.  Durch die Zeitraffung währt die Darstellung eines Jahres kaum länger als eine Minute, wobei der Betrachter jeden einzelnen Tag des Lebens der jungen Frau für einen Augenblick miterlebt.  Die frontale Bildperspektive zwingt ihn geradezu, das Gesicht und die Spuren des Missbrauchs genau wahrzunehmen. Durch die Perspektive rücken das Gesicht und die Mimik in den Mittelpunkt. Neben den Anzeichen der Gewalt im Gesicht der jungen Frau ist der Emotionsausdruck das zentrale Mittel zur Darstellung und Vermittlung der Gewalterfahrung.

„One Photo a Day in the Worst Year of My Life“ erschien am 18. März 2013 im Rahmen einer Kampagne gegen häusliche Gewalt in Serbien auf YouTube. Binnen einer Woche ging das Video viral und generierte 3 Millionen Views – inzwischen sind es über 62 Millionen (Stand: 03. September 2020). Die Besonderheit: Bei dem Video handelte es sich zunächst um eine audiovisuelle Narration ohne jeglichen institutionellen Rahmen – keinerlei Hinweis auf die NGO Fund B92, die das Video in Auftrag gab, ebenso wenig auf die weltweit agierende Werbeagentur Saatchi & Saatchi Belgrade, die sich der Umsetzung annahm.

Den Ursprung verschleiert auch die Wahl des Distributionskanals mit dem Titel „fero061982“, der in keiner offensichtlichen Verbindung zur Kampagne gegen häusliche Gewalt in Serbien steht. Das hochgeladene Video ist zu diesem Zeitpunkt das einzige auf dem Kanal und bleibt dadurch in seinem Realitätsstatus ambivalent. In den 9.705 Kommentaren (Stand: 12. Juni 2019) ist eine Kontroverse zu beobachten,  die Nutzer sind sich nicht einig: Handelt es sich bei der Protagonistin um eine reale Person, die ihr „worst year“ mit der YouTube-Öffentlichkeit teilt – oder ist alles nur „fake“, sie eine Schauspielerin und die Verletzungen Arbeit geschickter Maskenbildner? Gleichsam in forensischer Beweisführung geben Nutzer in den Kommentaren Hinweise auf ‚Fehler‘, etwa das zu schnelle Verheilen der vermeintlichen Wunden. Die zentrale Frage, die sich der Rezipient stellt: Handelt es sich bei dem Video tatsächlich um eine Dokumentation oder um Fiktion?

Zehn Tage nach der Veröffentlichung (am 28. März 2013) erfolgte die Auflösung: Auf demselben YouTube-Kanal wird ein zweites Video veröffentlicht, das retrospektiv dem ersten einen institutionellen Rahmen verleiht: Auf Serbisch, in schlichter Schrift und in Kombination mit wiederum ruhiger instrumentaler Musik erläutert es in 29 Sekunden, dass jede dritte Frau auf der Welt Opfer von Missbrauch werde. Mit Hinweis auf die Adresse www.sigurnakuca.net („Sigurna Kuca“ bedeutet übersetzt „Sicherheit“) ruft es dazu auf, betroffenen Frauen noch heute zu helfen. Nun erst kann das erste Video zweifelsfrei als Teil einer Kampagne gegen häusliche Gewalt ausgemacht werden. Der Rezipient erhält durch den Hinweis auf die Website die Möglichkeit, an vertiefende Informationen zu gelangen und ggf. auf den Appell reagieren zu können.

Die Strategie der Verunsicherung erzeugt Interesse, Neugier und Betroffenheit und führt plakativ vor Augen: Jede Frau kann Opfer von Gewalt und Missbrauch werden – wirkt sie auch noch so selbstbewusst und unabhängig. Die Wandlungsfähigkeit der jungen Frau vor der Kamera unterstützt diese These. Ihr von Bild zu Bild wechselndes Erscheinungsbild, hervorgerufen durch unterschiedliche Kleidung, Accessoires, Frisuren und Make-Up, repräsentiert eine ganze Bandbreite von Frauen. Dies zeigt einmal mehr, dass häusliche Gewalt unabhängig ist von Einkommen oder sozialem Status der Betroffenen. Im Kontrast zu dieser Wandlungsfähigkeit wirkt ein kleines Muttermal über dem Mund der Protagonistin wie ein Anker in den schnell wechselnden Bildern. Dieses Mal kennzeichnet die Frau, die wir aufgrund der gravierenden Verletzungen ansonsten kaum mehr wiedererkannt hätten.

Die Kampagne erhielt national wie international renommierte Preise und erreichte mit der Drastik der Bilder und der Verunsicherung seiner Zuschauer ihr vorrangiges Ziel: die Thematik der häuslichen Gewalt zum Gegenstand der Aufmerksamkeit zu machen. Die erzielten Spendeneinnahmen ermöglichten der verantwortlichen NGO Fund B92 zudem die Eröffnung zweier weiterer Frauenhäuser in Serbien.

Merle Bonato