Die bittere Ironie einer fiktiven Castingshow im Kontext der norwegischen Asylpolitik
Das Video „So You Think You Can Stay“ ist Teil einer gleichnamigen Kampagne der Norwegian Organisation for Asylum Seekers (NOAS), die sich für die Rechte von Asylsuchenden einsetzt und gegen Norwegens inhumane Asylpolitik ankämpft. Das einst liberale Land wird inzwischen von der rechtspopulistischen Fremskrittspartiet mitregiert. Die NOAS kritisiert das geltende Asylverfahren als amoralisch, ungerecht und willkürlich. Ihr Video spitzt diese Kritik satirisch zu, indem es das Verfahren mit einer Castingshow vergleicht. Amir Najjer, ein Flüchtling aus Gaza, wird im Warteraum eines Fernsehstudios gezeigt. Die Moderatorin spricht ihm Mut zu, dann folgt sein Auftritt. Binnen 90 Sekunden schildert Amir die Situation in seiner Heimat, erzählt der Jury von seiner Familie, der Hamas und dem Terror. Eine Werbepause erhöht die Spannung: Darf Amir in Norwegen bleiben? Ein pathetischer Trailer berichtet von Hoffen und Bangen, Rettung und Zurückweisung elf anderer Kandidaten. Als die Jury Amir abzulehnen droht, holt er flehend sein Familienfoto hervor. Das Ende bleibt offen – das Bild wird schwarz, es erscheinen die Internetadresse der Show und das NOAS-Logo, das schließlich verblasst.
Sarkastisch assoziiert das Video den Asylprozess mit Merkmalen des Castingshow-Formats: Wettbewerb, Selbstinszenierung, Beurteilung der Performance. Wer kann seine Lebensgeschichte am dramatischsten erzählen? Wer hat das größere Leid erfahren? Die Zuschauer erhalten Zugang zu den Vorder- und Hinterbühnen der fiktiven Show, zu den Perspektiven der Jury, Amirs, weiterer Kandidaten sowie der Fernsehkameras. So parodiert das Video den Talentwettbewerb „So You Think You Can Dance“, in dem Kandidaten ihr tänzerisches Talent unter Beweis stellen (z.B. Jacy Jordan So You Think You Can Dance Audition 2015). Derartigen Unterhaltungsformaten eignet eine „inszenierte Authentizität“ (Pörksen 2010, 26), die sich im Video noch komplexer gestaltet: Zwar ist die Castingshow fiktiv und die auftretenden Personen sind Schauspieler, doch die Lebensgeschichten der Kandidaten beruhen auf echten Fällen. So entsteht eine changierende, doppelt inszenierte Authentizität.
Zugleich folgt das Video Strategien des politischen Storytelling. In der Exposition wird Amir vorgestellt und das Motiv des Wartens eingeführt. Der Hauptteil, als Amir vor die Jury tritt, nutzt für Castingshows typische Formen der Emotionalisierung und Stereotypisierung. Bild und Ton vermitteln wechselnde Atmosphären: So unterstützt die Musik der Anfangsszene die Anspannung im Wartezimmer, in der Jury-Szene setzt ein bedrohlicher Ton ein, und zum fiktiven Trailer-im-Film ertönt eine dramatische Melodie, die Tragik und Kampfgeist ausdrückt und sich am Spannungshöhepunkt wiederholt, bis Basstöne im Takt des Herzschlags einsetzen. Die vorherrschenden Farben spiegeln die Gefühlskälte der Jury wider. Als zwei Juroren Amir ein „Nein“ geben, ist der dramatische Höhepunkt erreicht, doch bleibt der Konflikt offen. Rhetorische Mittel – Metaphern, Symbole, Parallelismen, Generalisierungen – unterstreichen die zentrale Aussage: Damit schutzbedürftige Flüchtlinge nicht abgeschoben werden, muss sich die norwegische Asylpolitik ändern.
Die Kampagne, die NOAS von einer professionellen Werbeagentur pro bono konzipieren ließ, wurde unter anderem über den YouTube-Kanal und die Website der Organisation verbreitet. Dort stehen auch Informationen zu den realen Lebensgeschichten Geflüchteter zur Verfügung, die den Geschichten der Show-Kandidaten zu Grunde lagen, und es wird zum Handeln aufgerufen: Man kann Mitglied der Organisation werden und deren Arbeit, etwa unentgeltlichen Rechtsbeistand für Geflüchtete, finanziell unterstützen.
Angesichts der Distributionskanäle des Videos und der Zielgruppe von Castingshow-Formaten lässt sich vermuten, dass die Kampagne insbesondere jüngere Menschen ansprechen sollte. Für ihren Erfolg spricht die für ein norwegisches Video hohe Zahl von über 118.000 Klicks auf YouTube. Die Kommentare zum fiktiven Casting-Format reichen von Zustimmung über Verwirrung bis hin zu Empörung, oft sind die Reaktionen zwiespältig. In den Worten einer Nutzerin: „I don’t know whether to laugh or cry.“
Judith Overbeck