Die !Mediengruppe Bitnik übernimmt mittels eines Störtransmitters die Kontrolle über Kameras in der Londoner U-Bahn und lädt das Sicherheitspersonal zu einer Schachpartie auf ihren Monitoren ein. Dieser Guerilla-Artivismus stellt geschickt das Machtgefälle von Überwacher und Überwachtem auf den Kopf.
Das Videoprojekt Surveillance Chess (2012) – Hijacking CCTV Cameras in London dokumentiert eine künstlerische Intervention ins urbane Überwachungssystem im Sinne des ‚Artivismus‘, des Kunst-Aktivismus. Diese Intervention weist auf die Machtasymmetrie im gegenwärtigen Überwachungssystem hin und bricht die hierarchische Beziehung zwischen Überwachenden und Überwachten kurzfristig auf. Das Video wurde kurz vor den Olympischen Spielen in London von der !Mediengruppe Bitnik produziert, die sich vor allem mit der Kritik digitaler Medien befasst. Es wird auf Vimeo gehostet und ist über die Webseite der Künstler sowie eine eigens für das Projekt erschaffene Webpage abrufbar.
Surveillance Chess wird mit einer Schriftzugeinblendung des Schauplatzes (London, 2012) eröffnet. Die folgenden Sequenzen des siebenminütigen Videos bilden keine narrative Handlungskette, sondern eine durch abrupte Zeit- und Ortssprünge charakterisierte Wiederholungsreihe. Folgendes Handlungsschema wird dabei mehrfach an unterschiedlichen Schauplätzen wiederholt:
Eine Frau – Mitglied der !Mediengruppe Bitnik – erscheint mit einem gelben Koffer im öffentlichen Raum, platziert den Koffer im Blickfeld der Kamera, öffnet ihn und betätigt einen Schalter. Mit diesem Manipulationsakt übernimmt Bitnik die Kontrolle über die Überwachungsbilder der Kameras und überträgt an ihrer Stelle ein Schachbrett sowie eine schriftliche Aufforderung zum Schachspiel mit folgendem Wortlaut auf den Monitor im Kontrollraum: „I’ve hijacked your surveillance camera! I’m the one with the yellow suitcase. How about a game of chess? You are white. I am black. Call me or text me to make your move! This is my phone number 075 8246 0851”. Zwischen diesen Zeilen erscheinen abwechselnd das Schachbrett und das reguläre Überwachungsbild, eine Verkettung aus Überwachungs- und Gegenüberwachungsbildern.
Die visuellen Elemente des Videos sind durchweg in Grautönen oder Farben mit geringer Sättigung gehalten, die den Bildern der Überwachungskameras ähneln. White Noise und Glitches verstärken den Eindruck von Authentizität, der sich durch das gesamte Video zieht.
Gefilmt wird aus einer erhöhten Kameraperspektive von schräg oben, sodass das Geschehen aus einer überlegenen Position dargestellt und dadurch das ungleiche „Machtverhältnis zwischen einem scheinbar allwissenden, unantastbaren Beobachter und einem uninformierten beobachteten Objekt ohne Stimme“ [1] vermittelt wird.
Auch auf akustischer Ebene signalisiert das Video Authentizität, fängt das Rauschen und die Umgebungsgeräusche der Schauplätze ein.
Die Schriftzug-Einblendungen werden durch eine computergenerierte Frauenstimme paraphrasiert. Diese Verbalisierung akzentuiert die Aufforderung zur Spielannahme und hebt die Kommunikation auf eine persönlichere Ebene: Die Person hinter dem Monitor, im Kontrollraum, wird auch auf auditiver Ebene direkt mit der Spielaufforderung und dem Kontrollverlust über das Videomaterial konfrontiert.
Die Wiederholung von Montageformen, Bild- und Ton-Strukturen bildet ein charakteristisches Merkmal des Videos und macht zum einen auf die Tatsache aufmerksam, dass Überwachungskameras allgegenwärtig sind und an den unterschiedlichsten Orten zum Einsatz kommen. Zum anderen betonen die bildlichen und akustischen Wiederholungen den Aufforderungscharakter, der dem gesamten Video zugrunde liegt. Schriftlich wird dies durch durchgehende Großschreibung sowie den Übergang von Interrogativ- auf Imperativsätze signalisiert, die einen bestimmenden Unterton erzeugen („How about a game of chess?“ (01:15-01:22) vs. „Play chess with me.“ (02:48-02:51), „Come on!“ (02:54-02:56)). Solche Stilmittel rufen dem Betrachter die Omnipräsenz der Überwachungskameras ins Bewusstsein und verleihen einer Verärgerung über die unausgewogene Machtstruktur Ausdruck zu.
Ein weiteres Stilmittel besteht in einer zunehmenden Annäherung an die Protagonistin. Zu Beginn des Videos ist sie einer Totalen, also in relativ großer Entfernung zur Überwachungskamera zu sehen (00:44-00:54). Im Laufe des Videos nähert sie sich den Kameras immer weiter an, bis sie sich am Ende schließlich unmittelbar vor der Überwachungskamera befindet und demonstrativ hineinblickt (05:18). Damit gibt sich die Protagonistin als Mitglied Bitniks offen zu erkennen und manövriert die Kommunikationssituation auf eine persönliche, intimere Ebene. Darüber hinaus findet durch den demonstrativen Blick in die Überwachungskamera eine Umkehrung der Beobachtung statt, wodurch ein Bewusstsein der allgegenwärtigen Sichtbarkeit demonstriert und die Machtasymmetrie herausgefordert wird.
Diese Herausforderung wird durch das Schachspiel als Metapher für die Ebenbürtigkeit der Teilnehmer intensiviert. Im Schachspiel sind beide Parteien denselben Regeln unterworfen, sodass ein ausgeglichenes Machtverhältnis herrscht und sich die Spieler in einem gemeinsamen Kommunikationsrahmen auf gleicher Ebene begegnen können. In diesem Merkmal steht Schach der Überwachung diametral entgegen und modifiziert das panoptische System der einseitigen Sichtbarkeit. Durch das Hacking beziehungsweise die Manipulation der urbanen Überwachungskameras wird die Überwachung damit zur Unterwachung beziehungsweise Surveillance zu Sousveillance [2].
Mit Surveillance Chess verwirklicht Bitnik ein Projekt, dessen zentrales Konzept sich auch in anderen ihrer Arbeiten wiederfindet: Das System der Überwachung wird mit Mitteln der Kunst umgekehrt. Ihre Intervention in das Londoner Überwachungssystem besteht dabei im Wesentlichen aus zwei Schritten: Indem sich das Schweizer Künstlerkollektiv Zugang zu den üblicherweise nicht öffentlich verfügbaren Bildern der Kameras verschafft und diese durch Veröffentlichung des Videomaterials jedermann zur Verfügung stellt, erzeugt es zunächst eine Machtverschiebung zwischen Überwachten und Überwachenden (!Mediengruppe Bitnik 2011: 20). Letzteren wird damit der Zugriff auf die Überwachungsbilder verwehrt, während der Mehrheit – den Überwachten – das Bildmaterial uneingeschränkt zur Verfügung gestellt wird.
Die tatsächliche Neuausrichtung beziehungsweise alternative Nutzung des Überwachungssystems erfolgt jedoch erst durch das Hacking der Kameras. So wird in einem zweiten Schritt durch die Übertragung des eigenen Bildmaterials auf die Überwachungskameras die ungleiche Machtstruktur durchbrochen. Der Perspektivwechsel stellt die KünstlerInnen – und mit ihnen die Zuschauer – auf eine gemeinsame Kommunikationsebene mit den Überwachenden und in einen gemeinsamen Handlungsrahmen. Der Überwachende verliert die Kontrolle, werden die etablierten Machstrukturen zwischen Beobachter und Beobachteten werden nicht nur kritisch hinterfragt, sondern zeitweise umgekehrt. Damit bildet das Schachspiel eine Allegorie der Sousveillance, mittels derer die Artivisten Kritik an der Machtasymmetrie des Überwachungsstaats ausüben und eine gegenseitige Sichtbarkeit sowie eine Kommunikationssituation auf Augenhöhe einfordern.
Sina Läpple