Amnesty International schickt in „Through the Eyes of a Refugee“ fünf Teilnehmer eines Experiments mittels Hypnose auf eine dramatische Reise aus dem Kriegsgebiet Syrien in die sicheren Niederlande.
Was passiert, wenn man gewöhnliche Menschen die Erlebnisse eines Geflüchteten durchleben lässt? Das Video „Through the Eyes of a Refugee“ dokumentiert ein Experiment, in dem fünf Teilnehmer unter Hypnose die gefährliche Reise von Syrien nach Europa durchmachen. Zunächst erleben die unter Hypnose stehenden Probanden, wie ihr Haus bombardiert wird und Familienmitglieder sterben. Sie treten die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer an und finden Aufnahme in einem Flüchtlingscamp, in dem unmenschliche Lebensbedingungen herrschen. Erst die Ankunft in den Niederlanden setzt dem Leidensweg ein Ende. Nach Erwachen aus der Hypnose werden die Teilnehmer mit ihren eigenen Reaktionen konfrontiert und treffen schließlich die Syrerin Marwa, deren Geschichte sie gerade nachempfunden haben. Alle Probanden äußern tiefes Mitgefühl für die Frau („Can I hug you?”, „I hope we have embraced you here, I hope you feel safe now”). Am Ende liegen sich die Geflüchtete und die niederländischen Teilnehmer des Experiments weinend in den Armen. Hier versinnbildlicht sich die Idee von der Vereinigung der Völker, verbunden mit der pathetischen Überhöhung der Niederlande als erlösender, sicherer Hafen.
In seiner Strategie zur Erweckung von Empathie bei den Probanden, aber auch beim Zuschauer scheint „Through the Eyes of a Refugee“ sehr wirkungsvoll, jedoch drängen sich unmittelbar Fragen auf: Haben wir es hierbei mit einer glaubwürdigen Darstellung zu tun, oder handelt es sich schlichtweg um pseudo-wissenschaftlichen Unsinn? Ist Hypnose in der dargestellten Form überhaupt realistisch oder ist Skepsis geboten? Suchen wir nicht während der gesamten Darbietung nach Hinweisen auf das Schauspiel? Und ist es opportun und ethisch vertretbar, die aus den Kulissen tretende Marwa als ‚Musterflüchtling‘ zu gebrauchen?
In einer Panoptikum-artigen leeren Fabrikhalle sitzen die Teilnehmer jeweils allein auf einem Stuhl in der Mitte des Raums und werden von einem Scheinwerfer angestrahlt. Die Architektur der Beobachtung entspricht der Exponiertheit des Probanden, der den Blicken der Kamera, des Hypnotiseurs und des Betrachters vor dem Screen gleichermaßen ausgesetzt ist. Aufbau der bühnenartigen Umgebung und Ausleuchtung gemahnen an eine Bühnensituation im Theater. Das aufgeführte Experiment gewinnt dadurch an Show- oder auch Spektakelcharakter, verliert aber gleichzeitig seine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit.
Die fünf Probanden unterschiedlichen Alters und Geschlechts stehen stellvertretend für die gut situierte, weiße, westliche Gesellschaft, zugleich Zielgruppe des Videos. Ungeachtet seiner an sich passiven Beobachterperspektive zwingt das Experiment den Zuschauer die schmerzvollen Erfahrungen auf der gefährlichen Reise in einem simulativen Nachvollzug mitzuerleben. Mittels banaler, aber gleichwohl wirksamer Emotionalisierungsstrategien, wie dem signifikanten Einsatz von Musik und dem Erwecken von somatischer Empathie, ruft das Video starke Reaktionen hervor. Spielfilmtypische Großaufnahmen der Gesichter unterstützen die Gefühlsansteckung: Eine Träne kullert aus dem Auge einer Teilnehmerin und vermittelt dem Betrachter suggestiv: Du sollst hier fühlen!
Zu Beginn ist lediglich der Originalton des Experiments inklusive eines Raschelns und Rauschens zu hören. Die Räumlichkeit der leeren Fabrikhalle verleiht der Stimme des Hypnotiseurs einen bedeutungsvollen Hall. Wie im Spielfilm setzt die Musik zur Unterstreichung des emotionalen Höhepunkts ein, als die Probanden imaginär die Leichenteile ihrer Geschwister finden. Die vibrierenden, bedrohlichen Klänge intensivieren nahezu unbemerkt an der Bewusstseinsschwelle die emotionale Aussage. Erst mit der Einblendung „You are finally safe“ erhellen sich die Klänge. Eine sanfte Klaviermelodie untermalt die Erleichterung bei der Ankunft in den rettenden Niederlanden. Der Betrachter soll ein kathartisches Erlebnis haben, indem nach Angst und Schrecken die Erlösung und ein glückliches Ende folgen.
Da sich Empathie über ein personifiziertes Drama effektiver hervorrufen lässt als durch die Vermittlung abstrakter Fakten, schlachtet „Through the Eyes of a Refugee“ das Schicksal Marwas geradezu aus. Ihre tragische Geschichte steht indes stellvertretend für den Leidensweg tausender Kriegsgeflüchteter. Dabei ist die Auswahl der 29-jährigen, modern gekleideten und Englisch sprechenden Syrerin gewiss kein Zufall. Inwiefern Marwa, hier als Symbolfigur gelungener Flüchtlingspolitik in Szene gesetzt, tatsächlich repräsentativ für all die Geflüchteten stehen kann, ist fraglich.
Auch Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Hypnose drängen sich auf. Der Hypnotherapeut Jos Claus, in den Niederlanden eine Fernsehpersönlichkeit, versetzt die Teilnehmer scheinbar mit nur drei beruhigenden Standardsätzen in Trance. Die Wirkung wird eindrucksvoll visualisiert: Die Dramaturgie gibt die Geschwindigkeit der alternierenden Montage vor, um die Reaktionen der Probanden miteinander vergleichbar zu machen. Um das Interesse der Zuschauer nicht zu verlieren, muss das Hypnotisieren schnell gehen. Die Nebeneinanderstellung in der Montage offenbart allerdings auch die Gleichschaltung der Reaktionen: Während die Teilnehmer den Raketenangriff erleben, kauern sie unter ihrem Stuhl oder halten sich schützend die Hände über den Kopf. Sie husten, als bekämen sie tatsächlich Atemnot vom Staub der Explosionen. Sie weinen und rennen in der großen Halle umher, als sie vor einer imaginären Polizei flüchten. Dieses ostentative Abspulen standardisierter Verhaltensprogramme untergräbt die Authentizität der emotionalen Reaktionen.
Zugleich verleihen aber die technische und filmische Professionalität sowie der gute Ruf von Amnesty International dem Ganzen genug Glaubwürdigkeit, dass sich der Zuschauer emotional darauf einzulassen gewillt und in der Lage ist. Zur Absicherung veröffentlicht Amnesty ein begleitendes Erklärvideo: In „About the Participants“ (Amnesty International NL, 2018, https://www.youtube.com/watch?v=6zapZdgq1hw) erklären der Hypnotiseur und die Teilnehmer die Wirkung der Hypnose. Da dieses zweite Video nur etwa 1000 Aufrufe zählt, ist davon auszugehen, dass der Betrachter des ersten zwischen Glauben und Zweifel changieren dürfte.
Möglicherweise erhebt „Through the Eyes of a Refugee“ jedoch primär gar keinen Anspruch auf wissenschaftliche Glaubwürdigkeit, sondern zielt vor allem darauf ab, beim Betrachter Empathie und eine gesteigerte Form des Mitgefühls zu erwecken. Zentral ist nicht, ob wir dem Experiment Glauben schenken, sondern dass wir uns auf ein Gedankenexperiment einlassen: Wie ginge es mir an dieser Stelle? Was würde ich tun? Wie würde ich mich fühlen?
Die Form der Dokumentation eines vermeintlich ungescripteten Sozialexperiments ist bei NGO-Kampagnenvideos recht gängig, wie hier bei UNICEF (https://www.youtube.com/watch?v=MQcN5DtMT-0) oder Amnesty Poland (https://www.youtube.com/watch?v=f7XhrXUoD6U). „Through the Eyes of a Refugee“ produzierte Amnesty in Zusammenarbeit mit der professionellen Werbeagentur TBWA/Neboko, die unter anderem Werbung für Großkonzerne wie McDonald’s macht (https://www.tbwa.nl/work). Amnesty nutzt deren Erfahrung, mit audiovisuellen Texten die Gefühlswelt der Betrachter zu beeinflussen. Dies wirft die Frage auf, ob sich die NGO damit angreifbar macht: Welche ethischen Bedenken gibt es für eine Menschenrechtsorganisation, Imagekampagnen von kommerziellen Werbeagenturen umsetzen zu lassen, die mit Strategien der Persuasion durch emotionale Manipulation arbeiten? Welche Möglichkeiten gibt es für sie, ein breites Publikum zu erreichen und wirksam zu adressieren?
„Through The Eyes of A Refugee“ bietet dem Zuschauer weder Fakten zu Flucht und Migration noch klare Handlungsanweisungen. Auch zum Spenden fordert es ihn nicht auf. Das Video schafft ein Bewusstsein für das Schicksal von traumatisierten Kriegsflüchtlingen und beleuchtet den Themenkomplex aus gefühlsbetonter Perspektive. Das Experiment überzeugt durch seine emotionale Wirkung, die zunächst die analytische Vernunft des Betrachters verdrängt, kann bei genauer Betrachtung jedoch am Glaubwürdigkeits-Check scheitern. Seine Funktion hat es damit dennoch erfüllt: Es erzeugt auf verblüffende Weise durch ein Heraustreten aus der eigenen Lebenswelt und einen Wechsel der Erlebnisperspektive Empathie und Mitgefühl.
Hannah Zollhöfer