Der Kampf von Frauenrechtsaktivistinnen in der Türkei gegen sexualisierte und häusliche Gewalt geht weiter. Das Video „Kadın cinayetlerine karşı: ‚İstanbul Sözleşmesi Yaşatır‘“ zeigt den Protest von Frauen gegen die ausbleibende Umsetzung der Instanbul-Konvention – die eigentlich zum Schutz von Frauenrechten implementiert wurde.
Wir bestehen darauf zu leben!
Das von der aktivistischen Gruppe Karşı Mahalle (‚widerständige Nachbarschaft‘) geteilte Video „Kadın cinayetlerine karşı: ‚İstanbul Sözleşmesi Yaşatır’“ (“Gegen Femizide: ‘Die Istanbul-Konvention lebt weiter‘’”) dokumentiert die Demonstration von Frauen gegen die politische Verhinderung einer tatsächlichen Umsetzung der Instanbul-Konvention in der Türkei. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, gemeinhin als Istanbul-Konvention bekannt, war 2014 in Kraft getreten und veranlasste die unterzeichnenden Staaten, „einen umfassenden Rahmen sowie umfassende politische und sonstige Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung aller Opfer von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu entwerfen.“
In Anbetracht aufkommender Proteste gegen häusliche Gewalt erwägt die türkische Regierung aber, aus dem Abkommen auszusteigen. Die ausschlaggebenden Proteste hatten sich an der Ermordung Pınar Gültekins im Juli 2020 entzündet, richteten sie sich darüber hinaus aber generell gegen die seit Jahren ansteigende Zahl von Femiziden.
Die Istanbul-Konvention ist indes nur einer der Hintergründe, vor dem das Video zu verstehen ist. Ein weiterer erschließt sich durch einen Blick auf die Ereignisse am Vortag der Demonstration. Dadurch lässt sich auch die Bildsprache des Videos dechiffrieren.
Am Tag vor den im Video gezeigten Protesten wurde die junge türkische Studentin Pınar Gültekin auf grausame Art und Weise von ihrem Exfreund umgebracht. Pınar Gültekin verschwand am 16. Juli 2020 zunächst spurlos. Am 21. Juli wurde ihre Leiche in einer abgelegenen Wohnsiedlung der türkischen Provinz Muğla gefunden. In Folge des Mordes an Pınar Gültekin initiierte eine Gruppe türkischer Frauen am 27. Juli mit #ChallengeAccepted eine Hashtag-Kampagne auf Instagram. Unter dem Hashtag sammelten sich über 4,1 Millionen Postings – einige von prominenten Accounts. Viele Frauen in der Türkei beteiligten sich an der Kampagne; sie teilten Schwarzweiß-Fotos der Ermordeten und bezeichneten ihre Form der Anteilnahme als Challenge, um so die Sichtbarkeit von Femiziden zu erhöhen.
Der Mord an Pınar Gültekin löste Gefühle der Wut und Trauer aus, vehement eingefordert wurden aber auch Antworten auf die erhobenen Forderungen. Dies wird in den im Video gezeigten Demonstrationen offenkundig. Die protestierenden Frauen machen die türkische Politik mitverantwortlich am Tod Pınar Gültekins: Ihr Tod hätte vielleicht verhindert werden können, wäre die Istanbul-Konvention umgesetzt worden.
Nicht allein aufgrund der Covid-19-Pandemie tragen die demonstrierenden Frauen im Video ihre Masken. Sie bieten den Teilnehmerinnen zugleich einen Schutz vor Gesichtserkennung, Überwachung und möglichen Repressionen.
Aus Interviews mit feministische Videoaktivistinnen, unter anderem Şeriban Alkış ist bekannt, dass sie aus den gleichen Gründen für gewöhnlich auch Close-Ups vermeiden. Diese werden durch das Tragen der Masken teilweise möglich. Zusätzlich wird es den Filmemacherinnen durch die Masken erleichtert, sich auf die Wut und Trauer ausdrückenden Augenpartien der Demonstrantinnen zu konzentrieren.
Aktivistische Videos entwickeln ihre eigene feministische Sprache: Dies können wir beobachten, wenn wir uns die Beispiele aus der Türkei vor Augen führen. Hier formt sich eine spezifische Bildsprache heraus.
So wurden die Bilder des Protests größtenteils von der Position einer aktiven Teilnehmerin aus aufgenommen; die Kamera befindet sich mitten im Geschehen. Durch die Vermeidung einer erhöhten Perspektive wird eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Kamera und Gefilmten hergestellt.
Şeriban Alkış, die die Aufnahmen gemacht hat, betont, dass es ihr wichtig ist, mit den gefilmten Frauen in Blickkontakt zu sein. Anders als die Journalistin steht die Videoaktivistin im Zentrum des Geschehens, das sie nicht von einer objektiven Position aus einfangen kann. Sie will gesehen werden in ihrer solidarischen Anteilnahme und zeigen, mit und aus welcher Perspektive sie filmt.
Şeriban Alkış, schilderte mir im Interview, dass es für sie ein Leichtes sei zu erkennen, ob ein Video von einer Frau oder von einem Mann gefilmt worden sei. Diese Einschätzung begründete sie mit ihrer eigenen Vorgehensweise, bei der sie selbst an den Ereignissen partizipiert und aktiv versucht, die Stimme jeder einzelnen protestierenden Frau einzufangen und wiederzugeben.
Zu Beginn des Videos begegnen uns eine Vielzahl verschiedener Frauen. Sie haben unterschiedliche Haar- und Augenfarben. Das betonte Hervorkehren dieser Differenzen ist keine gängige Praxis im feministischen Videoaktivismus und hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen die Aufnahmen entstanden. Deshalb müssen wir den spezifischen Moment der Aufnahme rekapitulieren:
“Wir können als Frauen sehr unterschiedlich sein, aber es gibt nur eine Sache, die wir hier alle wollen“ sagt Şeriban Alkış: „Wir wollen zeigen, dass wir eine gemeinsame Stimme haben. Unsere Menschenrechte ausrufen, unser Bedürfnis, zusammen zu leben.“ Der Mord an Pınar Gültekin hat Frauen, ungeachtet ihrer Unterschiede, dazu bewogen, eine gemeinsame Stimme zu formen. Viele Frauen haben sich die Ereignisse um Gültekins Tod zu eigen gemacht – das zeigt sich vor allem in den Überschriften der Postings zu ihrem Tod: „We are all Pınar“ („Wir alle sind Pınar“). In dieser Geste liegt auch der Grund, weshalb wir zu Beginn des Videos die Aneinanderreihung von Nahaufnahmen der Gesichter unterschiedlicher protestierender Frauen zu sehen bekommen.
Darin ist die leitende Intention des Videos zu erkennen: Betont wird, dass die situativen Gefühle der protestierenden Frauen über zeitliche, räumliche, körperliche und persönliche Grenzen hinweg übertragen werden: An Frauen, die nicht am Protest auf der Straße teilnehmen konnten, an Frauen weltweit, die sich so affektiv kurzschließen und mit der Bewegung solidarisieren können.
So verschieden wie die gezeigten Frauen sind auch ihre Reaktionen und Haltungen gegenüber der allgemeinen Situation, die den Protest auslöste. Das Video zeigt einige wütend, andere trauernd. Manche rufen Parolen, andere wiederum beobachten still das Geschehen. „Egal wie viel wir gelitten haben, wir füllen diesen Platz nicht, um einfach nur unsere Gefühle rauszulassen“, fasst es eine der Videoaktivistinnen zusammen. Vielmehr könne die geballte Zurschaustellung der unterschiedlichen Reaktionen dazu führen, dass die Gefühle der Befreiung und Selbstoffenbarung auch von denen geteilt werden, die nicht beim Protest dabei waren. „Ich habe die Musik und die Augen der Protestierenden nicht nur ausgewählt, um zu zeigen, dass wir etwas zu sagen haben“, führt sie weiter aus. „Ich wollte zeigen, wie viele Menschen bei diesen Protesten dabei sind – auch wenn ich Totalen vermeide –, denn es muss erkennbar sein, wie viele es von uns gibt und dass wir nicht allein sind.“
Egal, wie eindrücklich die Musik auch sein mag, den Vorrang gibt das Video den weiblichen Stimmen und den Parolen, die sie rufen. Banner und Ausrufe folgen in der Montage aufeinander. Die gezwungene Einengung des sozialen Lebens, die im Ruf „We want to live“ zum Ausdruck kommt, kann dadurch aufgehoben werden, dass eine Frau ihre eigene Stimme lauter und öfter hört – sich und anderen Luft macht und Gehör verschafft.
Weitere Charakteristika vergleichbarer aktivistischer Videos von Frauen können hier ergänzt werden und bilden einen erweiterten Rahmen für die aufgezeigten ästhetischen Register des präsentierten Videos:
Den feministischen Videos aus der Türkei ist gemein, dass sie versuchen, verschiedene der von den Protestierenden gerufenen Slogans aufzunehmen. In der Montage gibt es keinen erzählerischen Anfang und kein Ende. Wenn so etwas wie Storytelling als Strukturmittel eingesetzt wird, dann nur in Form einer Erzählung, die wie das Leben immer weiter geht. Der Kampf von Frauen – für Gleichberechtigung, für gesellschaftliche Teilhabe, gegen sexualisierte Gewalt – ist nicht neu und hört auch nicht auf. Daher sind auch die in den Videos vorgestellten Bilder von Frauen nicht auf äußere Eigenschaften reduzierbar, und die meisten der Videos konzentrieren sich auch nicht auf die (Held*innen-)Geschichte einer speziell herausgestellten ikonischen Figur. Durch das Herausstellen einer einzelnen Frau als Identifikationsfigur und der mit ihrer Geschichte einhergehenden Katharsis wird die Kollektivität des Kampfes ausgeblendet oder der falsche Eindruck vermittelt, dieser sei bereits gewonnen.
Deshalb sind diese Videos Teil einer feministischen Bildsprache: Alle Elemente der Inszenierung, welche die kollektive Stimme der Frauen abmildern oder unterdrücken könnten, werden daraus getilgt.
Frauen brauchen killjoy habits, sie müssen das Sandkorn im Getriebe der Männerherrschaft sein, wie Sara Ahmed in ihrem Buch Living a Feminist Life vorschlägt. In der Türkei bieten die beschriebenen Videos eine neue Sprache für alle Frauen, die nicht länger Opfer der von Ahmed beschriebenen Gewalt sein wollen.
Aslı Kotaman