Dschihadistische Hass- und Hetzpropaganda: Das Web-Video COME ON RISE als Aufruf zur aktuellen Lone-Actor-Kampagne des sogenannten „Islamischen Staats“
Extremistische Video-Propaganda wie die Clips des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS) als Aktivismus zu beschreiben, ist gelinde gesagt problematisch. Doch hat sie mit zivilgesellschaftlichem Aktivismus zumindest das Merkmal gemeinsam, dass es sich um zielgerichtete politische Betätigungen jenseits etablierter politischer Institutionen und Prozesse handelt. Sie bedient sich auch oft ähnlicher Methoden und Mittel, so etwa die Online-Kampagne „Eine Milliarde Muslime“ im Jahr 2014, in der Facebook-Nutzer mit eigenen Bildern ihre Solidarität für den IS bekunden sollten.
Eine Eigenart extremistischer Web-„Aktivismus“-Videos zeigt sich freilich schon darin, dass sich für sie keine verlässlichen Online-Quellen, Zugriffszahlen etc. angeben lassen: Da sie gegen nationale Gesetze und vor allem die Nutzungsbedingungen von Social-Media-Diensten verstoßen, werden sie mitsamt User-Kommentaren schnell gelöscht, tauchen jedoch, hochgeladen unter neuem Namen oder von anderen Nutzern, auf diversen Plattformen wieder auf. Den primären YouTube-Kanal oder die zentrale Website als Zugriffsstelle für ihre Untersuchung gibt es nicht. Fan-Gemeinschaften haben in diesem Kontext enorme Bedeutung für die IS-Mitmach-Propaganda: Sympathisanten können aktiv partizipieren, indem sie z.B. Ausschnitte aus Clips herausschneiden und neu kombinieren.
Ein Beispiel für eine solche Remix-Praxis ist das Video Come On Rise. Das primär englischsprachige Video wurde Mitte August 2016 von der „pro-IS Medienstelle“ Al-Thabat („Standhaftigkeit“) über deren Telegram-Kanal veröffentlicht. Wer sich dahinter verbirgt und wie sich Al-Thabat zu offiziellen Medienabteilungen des IS verhält, ist unklar. Das Video beginnt mit der für dschihadistische Filme üblichen Tauhid-Formel des Glaubensbekenntnisses (shahada) als weißem Schriftzug auf schwarzem Grund: „Es gibt keinen Gott außer Allah“, hier in der reduzierten Schriftart der IS-Clips des al-Hayat Media Centers. Nach dem technisch-martialischen Production-Intro mit einer computeranimierten High-Tech-Armbrust, deren Pfeil in einem Feuerball explodiert und das metallische al-Thabat-Logo samt wehender IS-Flagge gebiert, fliegen 3D-animierte Worte mit bedrohlichem Wummern ins jeweils darunter „erzitternde“ Bild: nach dem Titel „Come On Rise“ als stählern anmutende Buchstaben die Namen diverser IS-Feindesländer, Ziele vergangener und avisierter Anschläge, jeweils mit einem ortsbestimmenden „In“ davor und arabischer Übersetzung darunter: „In France“, „In America“, „In Belgium“, „In Russia“…
In reduzierterer Anmutung rollt hernach das Statement von „Al Shaik Abu Muhammad Al Adnani“ von unten auf dunkelgrüner Fläche ins Bild, in das ein kleines Foto des IS-Sprechers in Kampfmontur mit Kalaschnikow eingebettet ist. Für arabischsprachige Zuschauer untertitelt, intoniert eine mit Hall unterlegte Sprecherstimme den Aufruf an die Kämpfer in Europa und im „ungläubigen Westen“, die die „Kreuzzügler“ in ihren eigenen Ländern attackieren sollen. „We will argue, before Allah, against any Muslim who has the ability to shed a single drop of crusader blood but does not do so, whether with an explosive device, a bullet, a knife, a car, a rock, or even a boot or a fist“. Das Zitat, das mit einem ähnlichen am Schluss des Films als Rahmung fungiert, stammt aus einer Rede Adnanis, gehalten im Januar 2015. Mit ihr bekräftigte Adnani seine bekannte Ansprache „Indeed Your Lord Is Ever Watchful“ vom September 2014, in der er zum Individual-Terrorismus aufrief, zur Ermordung von Ungläubigen in ihren Heimatländern mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Schon al-Qaida propagierte derlei „führerlosen Dschihad“, der den Krieg in die fernen Städte der Feinde tragen sollte. Kampagnenvideos und -grafiken in Sozialen Medien empfahlen wahlweise den terroristischen Einsatz von Messern oder Fahrzeugen. Das seit 2010 erscheinende PDF-Hochglanzmagazin „Inspire“ der jemenitischen „al-Qaida auf der arabischen Halbinsel“ (AQAP) wurde gerade durch solche Ratschläge und Anleitungen bekannt. 2013 gab es gar ein eigenes „Gotteskrieger-Taschenbuch“ und jüngst, nach den Attacken in Orlando und Nizza, eigene „Guides“ für „Lone Mujahids“.
Das al-Thabat-Video Come On Rise ist also ein Beitrag zu einer größeren Lone-Actor-Strategiekampagne des IS, die auch mit anderen dschihadistischen Videos beworben wird. Nach dem Adnani-Zitat wird im Video dazu der große historische Deutungsrahmen des Dschihad unter Verwendung heterogenen Fremdmaterials entworfen: Szenen aus einem Historienfilm zeigen die Reiterschlacht zwischen Muslimen und Kreuzrittern, gefolgt vom Foto einer Anti-IS-Konferenzsitzung mit US-Außenminister John Kerry sowie Pentagon-Luftaufnahmen einer Bomben- oder Raketenexplosion, vermutlich in Syrien. Damit wird durch Bilder und Voice-Over ein dschihadistische Master-Erzählung einmal mehr formuliert, die des Jahrhunderte langen Angriffskriegs des Westens gegen Muslime. Vergangenheit und Gegenwart werden durch durchgängige, in der Postproduktion eingefügte virtuelle Kameradisplay-Markierungen samt „REC“-Einblendung und rotem, blinkendem Punkt verknüpft und als vorgeblich videodokumentarisch ausgewiesen. Gerade bei den fiktionalen Kostümfilm-Kriegsbildern wirkt dieser beglaubigende und aktualisierende Gestus eigentümlich anachronistisch. Die Effektmaske kommt auch in folgenden Einstellungen zum Einsatz, die unter dem Aufruf, die Ungläubigen zu töten, zwei Vermummte mit Messer und Sturmgewehr beim Kampf in einem Treppenhaus zeigt. Die schwarze Kluft und das Messer des einen leiten motivisch zu einem Ausschnitt aus einem IS-Hinrichtungsvideo über, dem ästhetisierten, die Massenexekution syrischer Soldaten schrecklich durchchoreografierenden ALTHOUGH DISBELIEVERS DISLIKE IT (13. Nov. 2014, al-Furqan) – dem Video, in dem auch der Tod des US-amerikanischen Entwicklungshelfers Peter Kassig drastisch verkündet und belegt wurde (s.u. unter Hintergrundlektüre). In dem kurzen Ausschnitt in COME ON RISE trennt der maskierte „Jihadi-John“ einem schwarzgewandeten Opfer am Boden den Hals durch; die beginnende Enthauptung wird von al-Thabat durch einen Ton-Effekt noch drastischer gestaltet. Es folgen weitere Ausschnitte aus Propagandavideos und Nachrichtenaufnahmen, Bilder von IS-Kämpfern, Anschlagsfolgen, einem abgetrennten Kopf in Großaufnahme sowie eine Fotocollage der „Selfies“ von Omar Mir Seddique Mateen, der im Nachtclub „Pulse“ in Orlando, Florida, 49 Menschen erschoss und in Come on Rise als nachahmenswertes Vorbild gepriesen wird.
COME ON RISE und al-Thabat spielen in der Flut der IS-Propaganda keine herausragende Rolle. Andere Web-Filme wurden häufiger besprochen, aufgrund ihrer Drohungen, ihres Inhalts oder formaler Qualitäten. In letzterer Hinsicht erscheint Come on Rise eher minderwertig, so fehlen die aufwendigen ornamentalen oder infografischen Computeranimationen, mit denen etwa das al-Hayat oder das al-Furqan Media Center u.a. „Kriegsfakten“, historische Ausbreitungsprozesse, politische Konstellationen, den Heroismus der Glaubenskämpfer oder die innerliche Schwäche der USA versinnbildlichen. Ein solch handwerklich professionelles, in seiner Effektverliebtheit „überproduziertes“ Erklärstück des al-Hayat Media Center wäre etwa NO RESPITE, das im November 2015 in mehreren Sprachfassungen erschien (auf Deutsch unter dem Titel KEIN AUFSCHUB).
Das Besondere an COME ON RISE ist dagegen, wie augenfällig das mittelmäßige Machwerk zentrale Merkmale von IS-Propagandavideos in sich vereint: die ideologisch-historische Rahmung des zentralen Dschihad-Narrativs, den Appellcharakter der aktuellen Lone-Actor-Kampagne sowie die generelle Selbstreferenzialität und Intertextualität in der Fülle unterschiedlichster Bilder. Auch ein weiterer, besorgniserregender Punkt wird durch COME ON RISE überdeutlich: die Beiläufigkeit, mit der drastische Gräuelbilder mittlerweile Verwendung finden. Diese Abstumpfung scheint in den Überbietungsorgien von Hinrichtungsvideos, die immer neue Mordinszenierungen zeigen, und letztlich auch im Nachlassen der Medienaufmerksamkeit eine Entsprechung zu finden.
Bernd Zywietz