Zum Video-Aktivismus von Alexei Nawalny.
Alexei Nawalny ist ein dynamischer russischer Politiker, Blogger und Herausforderer der regierenden Partei „Edinaja Rossija“ (Einiges Russland) und des Staatspräsidenten Wladimir Putin. Seit Januar 2021 ist er außerdem der bekannteste zivilgesellschaftliche Aktivist Russlands. Mit seiner Vergiftung am 20. August 2020 in Sibirien und seiner anschließenden Ausreise nach Deutschland und medizinischen Behandlung in Berlin entwickelte er sich auch zu einem wichtigen Kapitel der gegenwärtigen deutsch-russischen Beziehungen. Seine Rückkehr nach Russland wurde von Nawalny selbst mehrmals aus dem Berliner Exil angekündigt. Am 17. Januar flog er nach Moskau und wurde kurz nach der Landung festgenommen, vor Gericht gestellt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Es ist schwer zu sagen, ob und wann es zu Nawalnys vollständiger Genesung und zu seiner Freilassung aus dem Straflager Pokrow – wohin Nawalny aus dem Moskauer Gefängnis „Matrosenruhe“ abtransportiert wurde – kommen wird. Auch hinsichtlich seiner politischen Weltanschauung lässt sich das Phänomen Nawalny schwer einordnen: Während er seit einigen Jahren zum prominentesten politischen Herausforderer Putins aufgestiegen ist und große Popularität in Russlands Großstädten, aber auch in Zentralrussland und Sibirien genießt, erlebte er als Politiker und Aktivist mehrere Mutationen: Fußten seine Auftritte vor zehn Jahren ideologisch noch fest im russischen Nationalismus, so distanzierte er sich in der letzten Zeit teils von seinen früheren xenophoben Haltungen. Amnesty International sprach Nawalny gerade wegen dieser Haltungen den Status des politischen Gefangenen ab.
Das System Putin, die Korruption in Russland und die innenpolitische Ineffizienz der Regierung sind die wichtigsten Themen, die Nawalny auf seinem YouTube-Channel Nawalny LIVE (Anfang Dezember 2020 mit mehr als 2 Millionen Abonnenten) in Form kürzerer Video-Sketche oder längerer Interviews anspricht. Wenngleich er hier zwar auf ausländerfeindliche Parolen verzichtet, fordert er doch weiterhin die Einführung der Visa-Pflicht gegenüber den südkaukasischen und zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, aus denen die meisten Gastarbeiter*innen Russlands stammen. Seine Aussagen geraten ihm häufig konfus und widersprüchlich: Während er 2008 die einseitige, international verurteilte russische Anerkennung Abchasiens und Südossetiens, die völkerrechtlich zu Georgien gehören, begrüßte, betrachtete er 2014 die russische Okkupation der Krim kritisch. Hinsichtlich der Krim schlägt er gleichzeitig die Durchführung eines Referendums vor, das unter den jetzigen Umständen kaum Anerkennung in der Ukraine wie in der EU finden dürfte. Außenpolitische Themen sind nicht seine Stärke, entsprechend widmen sich die meisten Videos dem innenpolitischen Bereich, speziell den Schwerpunkten Bildung und Gesundheitswesen. Eine bessere Ausstattung dieser Bereiche, die in der Tat unter chronischer Unterfinanzierung und strukturellen Problemen leiden, plant er, durch Umstrukturierung und Umverteilung von Steuergeldern zu erreichen. Die Verteidigungsausgaben sollen dabei indes nicht gekürzt werden.
Nawalnys Videos sind professionell gemacht und erfreuen sich großer Beliebtheit: Im Schnitt werden sie zwei bis vier Millionen Mal aufgerufen. Nawalny taucht häufig selbst in der Rolle eines Kommentators auf und formuliert Statements in einer einfachen und deutlichen Sprache. Die seine Rede unterstützenden Ausschnitte aus der Tagespresse, Gerichtsurteile zu seiner Person oder zu seinen Mitstreiter*innen, Bilder von Polizeigewalt oder ähnliches werden zum passenden Zeitpunkt einmontiert. Nawalny ist schlagfertig, er wendet sich direkt zur Kamera und spricht überzeugend, wenn er die Korruption der Minister und die Macht der Oligarchen geißelt. Seine Wortwahl ist polemisch, sein Protest zielt auf die russische Wählerschaft. Oft verwendet er Parolen wie „schamlose Plünderung“, „Kreml-Bande“, „soll verrecken“, die dem Sprachgebrauch des populistischen Lagers zuzuordnen sind und die ‚Wutbürger‘ ansprechen sollen. Immer wieder betont Nawalny, dass er die „Wahrheit“ sage, „realistisch“ sei und dass Putin „auf der Anklagebank“ sitzen werde, wenn er erst an die Macht komme.
Am 18. Januar 2021 verbreitete der YouTube Channel Nawalny Live eine Ansprache Nawalnys. Betitelt als „Fürchtet Euch nicht, geht auf die Straßen!“ , handelte es sich bei dem kurzen Video um einen Aufruf Nawalnys zum unmittelbaren Handeln, gerichtet an seine Sympathisant*innen, den er unmittelbar vor Beginn des rasch gegen ihn eröffneten Gerichtsverfahrens in der Polizeistation aufgenommen hatte. Nawalny schaut direkt in die Kamera, er wirkt müde, aber entschieden. Die Aufnahme wurde unter besonderen Umständen gedreht, während der Untersuchungshäftling von mindestens zwei Polizisten im Raum überwacht wurde, die Nawalny auch während des Videos durch Gesten und Mimik indirekt anspricht. Seine Stimme, seine Kopfhaltung, Gestikulation und generell seine Körpersprache sind dennoch vergleichbar mit den Videos, die er zuvor in seinem Studio oder auch in Berlin aufgenommen hatte. Er spricht ruhig und fordernd. Den Satz „Fürchtet Euch nicht, geht auf die Straßen!“, der zum Titel des Videos wurde, wiederholt er während des dreiminutigen Videos mehrmals in der einen oder anderen Form. Die Wortwahl Nawalnys ist deutlich und populistisch: Das Putin-Regime bezeichnet er als eine „Bande der Diebe“ und Putin selbst als eine „auf dem Rohr sitzende Kröte“. Erneut weist er darauf hin, dass die Menschen in Russland „jeden Tag die Zukunft verlieren“. „Schweigt nicht, leistet Widerstand, geht auf die Straßen“ – so seine Botschaft.
In „Fürchtet Euch nicht, geht auf die Straßen!“ erscheint Nawalny dominant im Bild, seine Stimme und seine Ansprache machen das eigentliche Geschehen aus. Inhaltlich geht es um das Gefühl der Angst, wobei Nawalny den Eindruck zu erwecken sucht, sich selber keinesfalls zu ängstigen. Eigentlich Gefangener, Opfer des Regimes und dessen Willkür ausgeliefert, dreht er den Spieß gleichsam um und redet seinem Publikum ein, dass das Regime, dieses „Gewühl monströser Gauner“, vor seinen Sympathisant*innen, den Zuschauer*innen eben dieses Videos Angst hätte. Seine Stimme, nicht aufgeregt, sondern eher müde, seine dennoch wach wirkenden Augen und seine gelassene Gestikulation sollen Nawalny präsentieren, als einen, der in sich ruht, und die Zuschauer*innen von seiner inneren Stärke überzeugen.
Zwei Tage nach dem Upload in den YouTube Channel war das Video bereits mehr als dreieinhalb Millionen Mal aufgerufen und mehr als 85.000 Mal kommentiert worden. Die Rekordzahl der Abrufe erfreute sich der Film „Dvorec dlja Putina“ (Palast für Putin), der am 19. Januar ebenfalls auf dem Youtube-Channel Nawalnys ausgestrahlt wurde und in der Zeit bis zum 4. März 2021 von mehr als 114 Millionen ZuschauerInnen angesehen wurde. In diesem, als eine zweistündige Dokumentation und Entlarvung der Korruption in Russland angelegten Filmprojekt tritt Nawalny als Moderator, Investigativ-Journalist und Zeithistoriker auf. Die enorme Rezeption nimmt bis heute nicht ab.
Zaur Gasimov