Most Shocking Second a Day Video und Still the Most Shocking Second a Day: Zwei der erfolgreichsten Fundraising-Videos. Professionelle Strategien der Produktion und Distribution im karitativen
Das MOST SHOCKING SECOND A DAY VIDEO und sein Sequel STILL THE MOST SHOCKING SECOND A DAY sind Musterbeispiele für neue Strategien der Rhetorik, Ästhetik, Produktion und Distribution im Web 2.0, die von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eingesetzt werden, um möglichst große Publika zu erreichen. Aufgrund ihres Erfolgs sind die beiden Videos zu Markenzeichen der Kinderrechtsorganisation Save the Children geworden. Dieses Netzwerk aus 30 NGOs setzt sich in 120 Ländern für Kinderschutz, Nothilfe, Bildung, Gewaltprävention und Gesundheitsmaßnahmen ein; es berät die UN und verfügte 2014 über Einnahmen in Höhe von zwei Milliarden Dollar.
Beide Videos sind auf mehreren Webpages des NGO-Netzwerks zentral platziert. Sie waren wesentliche Elemente der Fundraising-Kampagnen „Save Syria‘s Children“ (2014) bzw. „Save Child Refugees“ (2016), die auch mittels Facebook und Twitter, Fotoaktionen (#Facesforsyria) und Aktionen zum lokalen Spendensammeln durchgeführt wurden. Ihr Ziel bestand darin, die Abstumpfung der westlichen Öffentlichkeit angesichts des seit 2011 andauernden syrischen Bürgerkriegs zu durchbrechen und die schwindenden Spendeneinnahmen wieder zu steigern. Das MOST SHOCKING SECOND A DAY war das Flaggschiff der ersten Kampagne, ihr wirkungsvollster Baustein. Innerhalb von fünf Tagen wurde es auf YouTube über 21 Millionen Mal gesehen und entwickelte sich zum insgesamt populärsten Werbevideo auf der Plattform im Monat März. Zahlreiche Fernsehsender, Zeitungen, Fachzeitschriften und Blogs berichteten darüber, die Werbebranche und Medienorganisationen zeichneten das Video vielfach aus (Gold Cyber Lion, Ad of the Week von Adweek, Ad Age Viral Chart, Viral Video Award u.a.).
Der alternative Titel IF LONDON WERE SYRIA deutet die inhaltliche Grundidee bereits an: Die fiktionale Erzählung verlegt den syrischen Bürgerkrieg nach London. Ein neunjähriges Mädchen führt dort ein glückliches Leben: Sie feiert ihren Geburtstag im Familienkreis, geht zur Schule, spielt mit Eltern und Freunden. Doch im Hintergrund schleicht sich ein politischer Konflikt in den Alltag ein und steigert sich bis zur Eskalation: Eine Bombe trifft das Haus, die Familie flieht und durchlebt immer schlimmere Entbehrungen und Gefahren. Schließlich wird der Vater von Frau und Tochter getrennt, die sich in ein Flüchtlingsheim retten. Ein Jahr ist vergangen: Wie zu Beginn des Films fordert die Mutter das Mädchen zu einem Geburtstagswunsch auf, doch das traumatisierte Kind blickt regungslos ins Leere. Das Video endet mit schwarzer Schrift auf weißem Grund: „Just because it isn’t happening here / doesn’t mean it isn’t happening / #savesyriaschildren“ und dem Logo der NGO.
Zwei Jahre später führt STILL THE MOST SHOCKING SECOND A DAY die Geschichte des Mädchens fort – eine neue Form der Serialität im Netz. Auch das Flüchtlingslager wird nun von Militärs bedroht. Mutter und Tochter müssen erneut fliehen und trennen sich, weil im rettenden Boot nur für das Mädchen Platz ist. Das Boot geht unter, das Mädchen und ein kleiner Junge schaffen es an Land, schlagen sich gemeinsam durch und werden im Ausland angefeindet. Schließlich werden auch sie auseinandergerissen, das Mädchen feiert seinen Geburtstag allein in einer Aufnahmestelle. Die Botschaft am Ende lautet diesmal: „It‘s happening here. / It’s happening now. / #savechildrefugees.”
Das dargestellte Geschehen basiert auf realen, von der NGO aufgezeichneten Erlebnissen syrischer Kinder. Der Grund für die Verlagerung des Schauplatzes nach Europa war zunächst das knappe Budget, dann aber eine gezielte Empathisierungsstrategie: Das Video sollte es seiner Zielgruppe, der europäischen Mittelschicht, erleichtern, sich in das Leiden der syrischen Bevölkerung einzufühlen, indem der Bürgerkrieg in vertraute Alltagswelten verlegt wird. Bei dieser Strategie einer universalisierenden Empathie müssen die Zuschauer sich also nicht kulturell Anderen anverwandeln, sondern sich nur vorstellen, es könnte sie selbst treffen.
Der Titel MOST SHOCKING SECOND A DAY VIDEO soll nicht nur durch den Superlativ Neugierde erzeugen (eine gängige Technik des Clickbaiting), sondern verweist vor allem auf die spektakuläre Erzählstruktur beider Videos: Sie ahmen das ONE SECOND A DAY-Format nach, bei dem die ‚Produser‘ – etwa mit Hilfe der App „1 Second Everyday“ – jeden Tag eine Sekunde ihres Lebens aufzeichnen (konkretes Vorbild war Sam Cornwells A SECOND A DAY FROM BIRTH). Dieses Prinzip der Video-Kompilation wird kombiniert mit der frontalen Bildperspektive des ONE PHOTO A DAY-Genres, in dem Nutzer ihren täglichen Blick in die Kamera festhalten. Die resultierende Form erzielt eine extreme Erzählgeschwindigkeit durch Zeitraffung (ein Jahr in einer Minute), einen Eindruck von Authentizität sowie empathische Nähe: Die frontale Naheinstellung auf das Kindergesicht betont dessen Emotionsausdruck, der unscharfe Hintergrund und die zeitliche Fragmentierung durch abrupte Schnitte vermitteln das subjektive Erleben und die Orientierungslosigkeit des Mädchens. Erprobte Techniken der Erzeugung von Mitgefühl werden eingesetzt: die Individualisierung kollektiver Probleme, die Betonung der Hilfsbedürftigkeit, die Nähe und Ähnlichkeit zur Zielgruppe.
Die Tiefenstruktur der Filmerzählung entspricht klassisch-linearem Storytelling: Die sympathische Hauptfigur muss ihre normale Welt verlassen, ihr Konflikt steigert sich bis zur einer Klimax und wird formal geschlossen durch eine zyklische Rahmung, die Anfang und Ende kontrastiert. Die Bild- und Tonästhetik unterstreicht diese Entwicklung und erzeugt eine Verdüsterung der Atmosphäre unter anderem durch eine Zunahme visueller und akustischer Schocks (harte Schnitte, plötzliche Geräusche und Lichtblitze) und eine Entsättigung der Farben; beides wurde von spezialisierten Postproduktionsfirmen umgesetzt. Aus rhetorischer Sicht ist das leidende Mädchen, das direkt in die Kamera blickt, eine topische Stellvertreter-, Identifikations- und Pathosfigur, anhand derer das Video ein schlichtes Argument zur Nothilfe entwickelt: Helft, denn Krieg und Vertreibung treffen Unschuldige und könnten auch euch selbst widerfahren.
Der Erfolg und die handwerklich sorgfältige Gestaltung der Videos sind nicht zuletzt auf Produktions- und Distributionsverfahren zurückzuführen, die inzwischen als typisch für die Arbeit größerer NGOs gelten können. Diese lassen ihre Webvideos zunehmend von professionellen Werbeagenturen und Filmproduktionsfirmen herstellen, die sich gezielter Mittel zur viralen Verbreitung bedienen. Save the Children beauftragte die Agentur Don’t Panic, diese wiederum die Produktionsfirmen Unit9 und Stink. Mehrere Mitglieder dieser Firmen zeichnen auch für Erfolgsvideos anderer Organisationen verantwortlich, so etwa der Creative Director Richard Beer für A VACCINE FOR VIOLENCE (Unicef) oder der Regisseur Martin Stirling für LEGO: EVERYTHING IS NOT AWESOME (Greenpeace). Das erfahrene Filmteam drehte die über 60 Szenen des MOST SHOCKING SECOND A DAY VIDEOS an nur zwei Tagen in London. Lily-Rose Aslandogdu, die Darstellerin des kleinen Mädchens, wurde durch die Videos bekannt und trat danach in zwei Serien und dem Hollywoodfilm A MONSTER CALLS auf.
Die emotionale Wirkung der Videos wurde in Testvorführungen geprüft, und die Distribution folgte einem kalkulierten Plan. Nach eigenen Angaben koordiniert Don’t Panic die zeitliche und internationale Verbreitung seiner Videos in Sozialen Netzwerken, setzt dabei Paid Promotion, Tagging und Seeding ein und versucht durch PR, die Berichterstattung der Massenmedien anzufachen. Entscheidend für die virale Zirkulation ist die Beteiligung prominenter Multiplikatoren: Das Interesse am MOST SHOCKING SECOND A DAY VIDEO flammte erneut auf, als der Filmstar Ashton Kutcher am 6.11.2014 auf Facebook einen Artikel über das Video postete. Insgesamt wurde das Video nach Eigenangaben der Agentur mehr als 1,5 Millionen Mal geteilt und vervielfachte die Abonnements des Save the Children-Kanals auf YouTube. Dort stehen beide Videos im Kontext einer Reihe von fünf weiteren Kurzfilmen zur Syrienkrise. Auch in der Spalte ähnlicher Videos listet die YouTube-Website vor allem Produktionen von Save the Children auf. Die inhaltliche Strategie des Perspektivwechsels – wie wäre es, wenn wir selbst die Flüchtlinge wären – findet sich zudem im Video WHEN YOU DON’T EXIST von Amnesty International, die formale Strategie der Zeitraffung beispielsweise in #SYRIACRISIS_ 5 YEARS IN 60 SECONDS von Unicef.
Als Fundraising- und Mobilisierungsvideos münden das MOST SHOCKING SECOND A DAY VIDEO und sein Nachfolger in konkrete Handlungsaufforderungen. Bereits während das Video läuft, legen sich Call-to-Action-Overlays (YouTube: „sponsored cards“) über das Bild: Eines dieser Felder lädt britische und amerikanische Nutzer ein, mittels einer kostenpflichtigen SMS zu spenden. Ein anderes – „How you can help“ – führt zu einer Webpage der NGO, die vertiefende Informationen enthält (etwa der Broschüre Childhood under Siege) und die Möglichkeit bietet, Spenden zu überweisen. Nach Angaben der NGO brachte die erste Kampagne ca. 340.000 $ ein und trug dazu bei, dass Zehntausende mit Wasser, Kleidung, Bildung, Kranken- und Traumabehandlung versorgt werden konnten (http://www.savethechildren.org/site/c.8rKLIXMGIpI4E/b.7998857/k.D075/Syria.htm).
Solche konkreten Ergebnisse sind auch der verbreiteten Kritik an den Videos entgegen zu halten, die ihren Eurozentrismus, ihre forcierten Empathisierungsstrategien und das aufdringliche Brand Building bemängelte. Diese Kritikpunkte mögen zutreffen; fraglich ist aber, ob auf andere Weise eine derartige Reichweite in den Netz- und Massenmedien, eine ähnlich dichte Einbindung in partizipatives Handeln und eine vergleichbare Wirkung auf die Zielgruppe hätte erreicht werden können. In den zahllosen Kommentaren zu beiden Videos zeigt sich zudem, dass sie als Aufforderungen zu Empathie und Hilfsbereitschaft in die kontroversen Diskurse zur sogenannten Flüchtlingskrise einfließen. Mehr Kritik als die Videos haben möglicherweise andere Praktiken der karitativen Organisation verdient: Mehr als 40 Jahre enthielt sie Ken Loachs Fernseh-Dokumentarfilm SAVE THE CHILDREN (aka THE SAVE THE CHILDREN FUND FILM, 1969) der Öffentlichkeit vor, weil er die Arbeit der Organisation kritisierte. Und zu deren Botschaftern gehört ausgerechnet Samantha Cameron, die Frau des ehemaligen britischen Premierministers, der dafür mitverantwortlich ist, dass nur eine geringe Zahl von Flüchtlingen in seinem Land Zuflucht finden konnte.
Jens Eder