Die preisgekrönte Videokampagne für eine spanische NGO ist der Robin Hood der viralen Videos: Indem sie sich den Such- und Werbealgorithmen der YouTube-Plattform anbiedert und so deren Werbekunden überlistet, nimmt es von den Reichen und gibt den Obdachlosen in den Straßen Barcelonas. Michel de Certeau wäre begeistert gewesen.

THE MOST BORING VIRAL VIDEO wurde 2015 auf der Webseite von Arrels fundació mit folgender Beschreibung hochgeladen:
This video talks of luxury, house, mansion, friends, cars, travel, first class, happiness, premium, car insurance, don’t worry, there’s no mistake in the text, read on, mobiles, handbags, love, friendship, exclusive, enjoy, dresses, clothes… Yes, read on, the youtube software is looking at us and we have to trick it, beauty, youth, dream home, mortgages, mobile telephony, finance, new cars, shoes, medical insurance, banks, credit cards, mortgage simulator, house insurance, adsl offers and all kinds of words which, linked to this video, through youtube software, make advertisers automatically pay to appear round about, so they unwittingly help the Arrels Foundation and thousands of homeless.

THE MOST BORING VIRAL VIDEO ist ein gelungenes Beispiel für eine subversive Medienhandlungsstrategie, für eine listige mediale Guerilla-Taktik im Sinne des Kulturtheoretikers Michel de Certeau: Mit den YouTube-Such-Algorithmen kalkulierend werden Begriffe gestreut, die im Kern der Ideologie des Warenkapitalismus stehen und einen Content vortäuschen, der von der werbetreibenden Industrie als attraktives Umfeld geschätzt und aufgesucht wird. Der Spot der spanischen Hilfsorganisation Arrels fundació baut eine Art Potemkinsches Dorf aus Wohlfühlfaktoren auf, in das die Werbeindustrie gelockt wird, um ihr dann – Robin-Hood-artig – Geld abzuzapfen und es an die Armen, die Obdachlosen auf den Straßen Barcelonas, zu verteilen.

Während es so verfährt, legt das Video den Taschenspielertrick zugleich offen und präsentiert sich als kleines Lehrstück über Techniken des Widerstands im von den großen Konzernen und Warenanbietern beherrschten Web 2.0, in dem die Aufmerksamkeit des Users einem direkten Geldwert entspricht und als Ware gehandelt wird.

THE MOST BORING VIRAL VIDEO betont mit ironischem Gestus auch seine technisch-ästhetische Differenz zur Hochentwicklung der Such-Algorithmen einerseits wie zur schimmernden Oberfläche der Konsumwelt andrerseits, indem es mit einer ausgestellt ‚armen‘ Ästhetik aufwartet, so den David-gegen-Goliath-Ansatz noch betonend:

Da wurde eine aus einer Stoffbahn gefertigte Greenscreen hinter dem Sprecher aufgespannt; er steht in heruntergekommener Umgebung, vielleicht im Hof eines verlassenen Gebäudes; statt einer elektronischen Klappe erfolgt ein simples Hände-Klatschen als Startsignal; eingeblendet werden Hintergrund-Videobilder, Retro-Schrifttypen und grafische Elemente wie aus den Anfangstagen des YouTube-Zeitalters; die Worte, mit denen sich der Sprecher – älteste Form der Informationsübermittlung – im direkten Appell an das Gegenübers richtet, sind klar und einfach; und das Hintergrundgeschehen bebildert in ostentativer Redundanz und witziger Simplizität seine Ausführungen zur Logik des Geldflusses im Internet. Es braucht so wenig, so die mitlaufende Botschaft, den technokapitalistischen Apparat auszutricksen: niedliche Katzenbilder, die richtigen Keywords, die schlichte Bitte dranzubleiben, verbunden mit dem paradoxen Versprechen, extrem Langweiliges zu bieten. Ein Angebot von Spaß an der Subversion, verbunden mit dem Bewusstsein, Gutes zu tun.

Den Besucher kostet sein Engagement rein gar nichts außer 30 Sekunden seiner Zeit und vielleicht noch einen Klick, um das Video mit seinen „Freunden“ zu teilen – einfacher kann man soziales Engagement nicht erbringen und zugleich davon künden. Ohne jeden Aufwand erlangt man darüber hinaus Zugang zur Gruppe der sophisticated user, die den subversiven Akt genussvoll auszukosten verstehen, mit dem der unbesiegbar scheinende Warenkapitalismus nicht im offenen Kampf angegriffen, sondern im Schlaf gemolken wird.

Damit die Sache lustvoll bleibt, werden jeder moralinsaure Appell und damit einhergehende mögliche Schuld- oder Schamgefühle tunlichst vermieden. Auch die Obdachlosen selbst kommen nur kurz und am Rande vor, eingebunden in die Aufforderung, das Video zu teilen, vorgebracht von dem sympathischen Sprecher, der uns in wohlartikuliertem Englisch für seine Sache einzunehmen versteht. Allenfalls bei der Behauptung, er selbst hätte bis vor einiger Zeit auf eben dieser Straße im Hintergrund gelebt, mögen Zweifel aufkommen.

Ob das Video tatsächlich den erhofften finanziellen Effekt für die Obdachlosenhilfe hatte, entzieht sich unserer Kenntnis; Presseberichten zufolge hatte das Video angeblich mehrere hunderttausend Aufrufe, diese Zahl lässt sich aber nicht verifizieren, da das Original-Video von YouTube entfernt wurde mit der Begründung, dass es „gegen die YouTube-Richtlinien zu Belästigung und Mobbing verstößt“ respektive „gegen die YouTube-Richtlinie zum Verbot von Hassrede“.

Laut coloribus.de, einem „Archiv der kreativen Werbung“, erhielt das Video, das auch im YouTube-Kanal von TopAgencias weiterhin zugänglich ist, viele Auszeichnungen, darunter auch zwei Cannes Lions (Silber in der Kategorie „Online Film“, Bronze in der Kategorie „Branded Content and Entertainment“) und ist ein gelungenes Beispiel für die Zusammenspiel von NGOs mit ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement mit kommerziellen Werbeagenturen und deren Instrumenten und rhetorischen Strategien.

Britta Hartmann

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